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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten
Autoren: Colin Dexter
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veranlagt war, aber strafbar im Sinne
des Gesetzes hat er sich bestimmt nicht gemacht. Doch als das Gerücht erst mal
im Umlauf war, wurde er von allen Seiten argwöhnisch beobachtet, und ich
gehörte zu denen, die bereit waren, das Schlimmste von ihm zu denken. Ich habe
mir sogar eingeredet — ohne auch nur die Spur eines Beweises zu haben —, er sei
von der Schule geflogen, weil er sich an jüngere Mitschüler herangemacht hatte.
Aber dann kam mir ein anderer Gedanke. Wenn ich mich nun geirrt hatte? Wenn
Lionel Lawsons alter Direktor mich ganz gern in meinem Irrglauben beließ, weil
die Wahrheit viel schlimmer war? Ich habe heute noch mal mit Meyer und auch mit
Lawsons früherem Klassenlehrer gesprochen. Die Lawson-Brüder waren ein
merkwürdiges Paar. Lionel, der Ältere, war ein ausgesprochener Streber,
fleißig, ein Bücherwurm, ohne besonders herausragende geistige Fähigkeiten,
schon damals mit einer Brille auf der Nase, immer ein bißchen unsicher — kurzum,
Lewis, ein lieber kleiner Langweiler. Philip hingegen war ein blitzgescheiter
Kerl mit allen Gaben, die man sich nur wünschen kann — intelligent, sportlich,
beliebt, gut aussehend, aber faul und egoistisch. Und wer ist der Liebling der
Familie? Philip natürlich, der Strahlemann. Man braucht nicht viel Phantasie,
um sich in Lionel hineinzuversetzen. Er ist eifersüchtig auf den Bruder, und
seine Eifersucht wird mit den Jahren immer schlimmer. Angeblich war damals auch
ein Mädchen im Spiel. Lionel war achtzehn, Philip etwa ein Jahr jünger. Sie sah
gar nicht mal besonders aus, aber sie war Lionels Freundin. Bis Philip sie ihm
— wahrscheinlich aus purer Bosheit — ausgespannt hat. Da nimmt das Unheil
seinen Lauf. An einem Wochenende zu Hause versucht Lionel seinen Bruder umzubringen.
Mit dem Küchenmesser. Er verletzt ihn schwer. Die Sache wird vertuscht, so gut
es geht, auch die Polizei ist gern bereit, alles weitere der Schule und den
Eltern zu überlassen. Beide Jungen werden von der Schule genommen, es kommt
nicht zur Anklage, und die Wogen glätten sich scheinbar wieder. Aber Akten
können nun mal nicht umgeschrieben werden, und es ist nicht daran zu rütteln,
daß Lional als Achtzehnjähriger erfolglos versucht hat, seinen Bruder
umzubringen. Wenn wir also nach einem Schwärenden, unersättlichen Haß suchen,
so haben wir ihn jetzt gefunden. Den Haß zwischen Lionel Lawson und seinem
jüngeren Bruder.»
    Daß das alles äußerst aufschlußreich war,
erkannte Lewis durchaus. Aber die Bezüge zu ihrem Fall waren ihm nach wie vor
nicht so recht klar. Doch Morse redete schon weiter.
    «Zuerst dachte ich, Lionel Lawson hätte Harry
Josephs umgebracht und dann einen Selbstmord vorgetäuscht, indem er seinen
Bruder in Priesterkleider steckte und ihn vom Turm stieß. Es wäre eine
geschickte Lösung gewesen. Man brauchte nur einen Zeugen, der die Leiche falsch
identifizierte, und so ein Zeuge stand bereit, nämlich Paul Morris, der von dem
Mord an Josephs zweifach profitiert hatte, erstens, indem er eine hübsche
Geldsumme einstrich, und zweitens, indem er Josephs Frau bekam. Aber Sie haben
selbst gesagt, Lewis — und Sie haben recht — daß es verdammt schwierig ist,
einen Toten in andere Kleider zu stecken. Allerdings ist es nicht unmöglich.
Nicht, wenn man die Schwierigkeiten einkalkuliert und reichlich Zeit hat. Es
war tatsächlich Lionel Lawson und nicht sein Bruder Philip, der im Oktober
letzten Jahres vom Kirchturm gestürzt ist. Lionel sah offenbar seine Tat als
etwas so Furchtbares, so Unverzeihliches, daß er damit nicht mehr leben konnte.
So nahm er seine Brille ab, steckte sie ins Etui — und sprang.
    Und da wir gerade bei der Identifizierungsfrage
sind, Lewis, muß ich gestehen, daß ich ernsthafte Zweifel daran hatte, ob die
Leiche, die wir auf dem Turm gefunden haben, wirklich Paul Morris war. Falls er
es nicht war, eröffneten sich da die interessantesten Möglichkeiten. Aber ich
sage Ihnen, Lewis, er war es, auch wenn wir ihn noch nicht eindeutig haben
identifizieren können. Ja, und so habe ich schließlich all diese
phantasievollen Theorien zu den Akten gelegt und eine ganz einfache Lösung
angepeilt, der wir alle von Anfang an keine Beachtung geschenkt hatten. Ruth
Rawlinson hätte sich in ihrer lächerlichen Aussage beinahe verraten, als sie
sagte, sie sei zu einer Lüge bereit gewesen. Angeblich betraf diese Lüge
die Messe in St. Frideswide’s, die nie stattgefunden hat, und ihr Schweigen
über die Verschwörung, die in
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