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Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)

Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)

Titel: Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)
Autoren: Margarete Mitscherlich
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denken?

    Nein. Das Komische ist aber, dass der Unglaube an den Tod proportional zu seinem Herannahen wächst.

    Die Psychoanalyse behauptet, das Sterben fällt denen am schwersten, die am meisten an ihrer Persönlichkeit hängen.

    Ich habe meinen Vater sterben sehen, meine Mutter und meinen Mann. Denen ist das Sterben eigentlich nicht so schwergefallen. Meine Mutter ist sogar recht gern gestorben. Soll man daraus schließen, dass sie sich nicht besonders mochte? Das hielte ich für Unfug. Ein einigermaßen intelligenter Mensch hat kein grandioses Selbstbild. Man kennt sich doch mit all seinen Schwächen. Es ist sogar so, dass man seine Schwächen besser kennt als seine Stärken. Manchmal hören wir von anderen, dass sie Eigenschaften von uns als Stärken empfinden, die wir für selbstverständlich halten.

    Haben Sie manchmal das Gefühl, sich überlebt zu haben?

    Ja. Aber stärker ist das Gefühl, dass die Psychoanalyse sich langsam überlebt. Die alten Griechen hatten die Losung: Erkenne dich selbst, und mache dich zu dem, der du bist! Statt sich selber auf den Grund zu gehen, erfindet man sich heute lieber neu. Die Menschen glauben, sich designen zu können wie ein Möbel. Das vorherrschende Lebensgefühl ist: Ich will nicht so sein, wie ich bin, denn so sind schon genug andere. Die Sehnsucht, sich von der Masse abzuheben, ist ein wahres Massenphänomen geworden. Dieser narzisstische Wunsch nach Einzigartigkeit führt dazu, dass uns mehr und mehr Menschen nicht als authentisch erscheinen. Dabei ist es sehr anstrengend, als jemand aufzutreten, der man nicht ist.

    Auf der Erde leben über sechseinhalb Milliarden Menschen. Darf sich da ein Einzelner, dem das Ende droht, so wichtig nehmen?

    Selbstverständlich nein. Ich sage mir hundertmal am Tag: ›Sei bescheiden und füge dich in den ewigen Kreislauf der Natur ein.‹ Es leben doch auch kaum noch Menschen, die dich vermissen werden. Aber diese Demut funktioniert nicht. Sie können Ihren Gefühlen keine Befehle erteilen.

    Wie groß ist Ihr Bedürfnis nach einem Jenseits?

    Gleich null. Ich glaube nicht an ein Jenseits, aber es wäre schön, ich könnte es. Der Glaube macht die Welt schöner als das Wissen. Ich muss ohne den Trost einer Religion sterben. Mein Verstand sagt: Statt ins Paradies zu kommen, kippst du in ein schwarzes Loch. Mein Herz ist da optimistischer.

    Sie wurden im Kaiserreich geboren. Wie hat sich seither Ihr Menschenbild verändert?

    Ich war als junger Mensch sehr verachtungsfähig. Ich habe zum Beispiel mich selbst und andere gehasst, weil wir nicht mehr gegen die Nazis unternommen haben. Ich habe im Krieg furchtbar viel gezittert, aus Angst vor den Bomben, aber auch vor Hass und Ekel. Diesen Ekel vor Menschen kann ich nicht mehr empfinden. Statt Abscheu vor der Niedrigkeit des Menschen habe ich heute Mitleid mit der menschlichen Schwäche.

    Nach mehr als 60 Jahren Seelenerforschung: Was ist Ihnen an der menschlichen Psyche bis heute unerklärlich geblieben?

    Je älter ich werde, desto weniger verstehe ich, dass ich mich so wichtig gefühlt habe. Warum habe ich das Leben so ungeheuer schwer genommen? Warum habe ich nicht begriffen, dass das Leben ein Spiel ist, ein großes Theater? Jeder von uns könnte wissen, dass wir ein zufälliges Stück Natur sind, das irgendwann endet. Stattdessen nehmen wir es wichtig, wenn wir eine Falte bekommen, und versuchen, sie zu verstecken. Das Rätsel ist, dass die Menschen so unglaublich lächerlich sind, inklusive man selbst.

    Das Gespräch führte Meinhard Schmidt-Degenhard

Wolfgang Leuschner
Ein Nachruf
    Margarete Mitscherlichs Beitrag zur Psychoanalyse der Gegenwart zeichnete sich von Anfang an durch die Besonderheit aus, dass sie über die klassische Analyse individueller Konflikte hinausging und die Beschränkung aufs Mikrokosmische der Psychoanalyse aufgab. Anders als Freud suchte sie unsere Kultur nicht mehr allein vom »Seelenende« her ins Auge zu fassen, so von innerpsychischen Vorgängen wie dem Ödipuskomplex auf äußere Verhältnisse schließend. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts lehrten sie eine andere Vorgehensweise: Sie machte die Untersuchungen jener Psychologie zum zentralen Bezugspunkt ihrer Arbeit, die dem kollektiven Wahn und den Grausamkeiten in Nazideutschland, dem »Versagen der Tradition« zugrunde lagen. Innerseelische Strukturen und Prozesse setzte sie mit der erschreckenden Wirklichkeit unserer deutschen Geschichte in Beziehung. So haben wir heute das Werk einer
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