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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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Anfangs waren Briefe von Hazel für sie gekommen. Nachdem Innes ihr die ersten beiden vorgelesen und die darauf folgenden Wutausbrüche ertragen hatte, las er keinen mehr vor. Nach einer Weile kamen keine Briefe mehr, und auch Innes hörte auf, über Louise zu berichten. Hazels Briefe waren immer in Boston abgestempelt, für Innes siebzehn Jahre lang eine magische Stadt.
»Warum haben wir angehalten?« fragte Louise.
»Wegen des Verkehrs«, sagte Innes, der kaum genug Luft bekam, um ihr zu antworten. »Wir müssen den Verkehr abwarten.«
»Ist es so schlimm?«
»Ja, leider.«
Er hätte Hazel überall erkannt. Jahrelang hatte er sie sich so vorgestellt, wie sie mit zweiundzwanzig gewesen war. Jetzt war sie neununddreißig. War sie verheiratet? Hatte sie Kinder? All die Fragen, die ihn seit fast zwei Jahrzehnten bedrängten, überfielen ihn, aber er konnte ihr keine einzige stellen. Denn schon in Sekunden würde er weitergehen müssen. Louise mochte alles mögliche sein, aber dumm war sie nicht.
Innes griff nach Hazels Unterarm. Er bekam nur den Stoff ihres Mantels zu fassen. Sie zuckte nicht zurück. Er erinnerte sich ihrer glänzenden Augen.
»Innes?« sagte Louise mit einem leichten Quengeln. »Der Karton wird allmählich schwer.«
Innes wollte Hazel lautlos ein Wort sagen. Aber welches Wort? Welches Wort?
Er ließ Hazels Arm los.
Warte , sagte er lautlos.
Mit äußerster Überwindung wandte sich Innes ab und schob Louise in ihrem Stuhl weiter.
Er bewegte mechanisch die Füße, ohne zu wissen, wohin sie ihn trugen. Er war völlig durcheinander, und seine Gedanken rasten. Das Funkeln der Stadt blendete ihn.
»Innes«, sagte Louise scharf.
»Ja?«
»Wohin gehen wir eigentlich?«
»Ich habe noch ein paar Besorgungen zu machen«, antwortete er. »Ich bringe dich ins Hotel zurück und lasse dich ausruhen.«
»Was für Besorgungen?«
»Tabak«, sagte Innes. »Ein Buch, das ich brauche.«
»Ah ja. In Ordnung«, sagte Louise, froh, in ihr provisorisches Nest zurückkehren zu können. Innes wußte, daß sie Tee und Gebäck bestellen würde. Wenn er zurückkam, würde sie Krümel auf dem Oberteil ihres Kleides haben.
Hazel stand genau an der Stelle, an der Innes sie zurückgelassen hatte: ruhig, die Handtasche am Arm, die Augen verdeckt von der Krempe ihres Huts.
»Wie lange hättest du gewartet?« fragte er, als er sie erreichte, atemlos vom Laufen.
»Vielleicht noch eine Stunde.«
»Ich konnte meine Ungeduld kaum verbergen.«
»Sie sieht ganz anders aus.«
»Inwiefern?«
»Zornig, finde ich. Es hat mich traurig gemacht, das zu sehen.«
Innes nickte. Ja, Louise war zornig. War es von Anfang an gewesen. Es half wenig, sich einer Frau zu opfern, wenn man sie nicht genug liebte.
Ein Mann rempelte Innes am Ellbogen an. »Wir sind nur ein paar Tage hier«, sagte er.
»Ihr lebt immer noch in Toronto?«
»An derselben Adresse. Ja.«
»Ich habe nicht mehr geschrieben.«
»Sie wollte nicht, daß ich ihr die Briefe vorlese«, sagte Innes.
Er zog Hazel aus der Bahn eines Radfahrers und ließ die Hand auf ihrem Arm liegen. »Ist es immer so voll hier?« fragte er.
»Um diese Jahreszeit, ja.«
Unter der Hutkrempe hervor blickte sie zu ihm hinauf. Er sah, daß sie eine selbständige Frau war. Zeit oder Erfahrung hatten das bewirkt.
»Ich habe ein Zimmer«, sagte sie.
Im ersten Moment war Innes erstaunt über die direkte Einladung. Dann erkannte er, daß es vernünftig war. Sie konnten nicht an der Straßenecke stehenbleiben.
»Du wohnst hier?« fragte er. »In der Stadt?«
»Es ist ziemlich weit von hier.«
»Sollen wir ein Taxi nehmen?«
»Wenn du willst.«
»Ich habe sehr wenig Zeit.«
Im Taxi nahm Innes Hazels behandschuhte Hand. Es war nicht genug. Er streifte erst seinen eigenen Handschuh ab, dann Hazels. Sie protestierte nicht. Er umfaßte ihre Hand und hielt sie fest.
Sie fuhren die Avenue hinauf, an den Herrenhäusern und am Park vorbei. Innes konnte die Stadt nur als Hintergrund zu Hazels Gesicht sehen.
Vor einem bescheidenen Haus aus braunem Sandstein hielten sie an. Nachdem sie ausgestiegen waren, ging Hazel eine kurze Treppe hinauf und wartete vor einer Tür mit blauen Milchglasscheiben.
»Das ist dein Haus?« Er blickte an dem dreistöckigen Gebäude hinauf.
Sie lächelte. »Ich habe eine Wohnung hier.«
Mit einem kleinen Aufzug fuhren sie in den dritten Stock. Im Aufzug nahm Innes sie beim Arm, nicht bereit, sie auch nur einen Augenblick loszulassen. Sie traten in einen dunklen Korridor hinaus. Hazel ging ihm voraus zu einer
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