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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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ohne Ziel und Plan, jedoch voller Begeisterung, rief bei Innes eine Empfindung hervor, die Freiheit nahe kam.
»Gut, daß ich den Schal doch mitgenommen habe«, sagte Louise.
»Dir ist kalt? Mir scheint der Tag so warm. Ungewöhnlich warm sogar.«
»Ja, aber ich sitze auch nur und du bewegst dich. Da kann man erwarten, daß mir etwas kälter ist als dir.«
Innes antwortete nichts, er hatte vor Jahren gelernt, daß Louise fast immer das letzte Wort haben mußte.
»Erzähl mir was«, sagte sie.
»Die Straßen sind voller Menschen«, begann er.
»Ja, ja, das höre ich. Erzähl mir von den Häusern, den Schaufenstern.«
»Warte, laß mich ein Stück zurückgehen.«
Innes hielt vor einem Diorama mit einer Weihnachtsszene nach Charles Dickens und beschrieb das »Feuer« im offenen Kamin, einen Weihnachtsbaum mit funkelnden Kerzen und die im Stil des neunzehnten Jahrhunderts gekleideten Familienmitglieder, die sich um den Baum versammelt hatten. Sein Blick schweifte zu einem anderen Fenster. »Hier gibt es schöne Morgenröcke zum Sonderpeis«, sagte er. »So einer würde Margaret vielleicht gefallen.«
»Beschreibe ihn.«
»Wolle kann es nicht sein«, sagte Innes, »dazu wirkt es zu weich. Sehr flauschig. Mit Stoffen kenne ich mich nicht aus.«
»Können wir hineingehen? Wäre das zu schaffen? Dann könnte ich den Stoff mal fühlen.«
»Ja, natürlich«, sagte Innes, obwohl er lieber draußen geblieben wäre, an der frischen Luft, im schmelzenden Schnee, bei den vielen Fahrzeugen auf den Straßen und den Wörtern, die ihm aus der Menge entgegenwehten. Geduld. Viel auf dem Spiel. Skandalös.
Innes drehte sich mit dem Rücken zur Tür und drückte sie mit der Schulter auf. Eine junge Frau mit einer Pelzstola lächelte ihn an und erhöhte damit die Summe unerwarteter Glücksmomente an diesem Tag.
Innes fragte eine Verkäuferin in einem grünseidenen Kostüm, wo er sich den blauen Morgenrock aus dem Fenster ansehen könne.
»Unterwäsche, im siebten«, näselte sie gleichgültig.
Innes schob den Rollstuhl in den großen Aufzug und stieg im siebten Stockwerk aus, dem Reich der Unterkleider, Hüfthalter, Frisierumhänge und Negligés. Er suchte nach den Morgenmänteln und lenkte Louise im Rollstuhl dorthin. Er legte ihr den Stoff in die Hand.
»Chenille«, sagte sie sofort. »Welche Farben?«
»Rosa, weiß, hellblau und – warte – gelb.«
»Welche würde Margaret am besten stehen?«
Louise hatte ja ihre Tochter nie gesehen.
»Das helle Blau, denke ich«, sagte Innes. »Wegen ihrer Augen.«
»Joan hat gesagt, daß sie hier die Sachen ganz wunderbar verpacken. Nimm auf jeden Fall die kleinste Größe.«
Innes wartete geduldig in der Schlange bei den Geschenkverpackungen. Den Rollstuhl hatte er an der Wand abgestellt, wo Louise gespannt den Frauen um sie herum lauschte. Als Innes das Paket schließlich bekam, mußte er Louise bitten, es auf den Schoß zu nehmen. Er konnte nicht den Rollstuhl schieben und gleichzeitig das große Paket tragen.
Nachdem sie im Aufzug abwärts gefahren waren, schob Innes seine Frau an der Parfümerie und den Verkaufstischen mit Handschuhen vorbei in die helle Sonne hinaus, deren Wärme Louise auf dem Gesicht fühlen konnte. Er bog um die Ecke, um die Straße hinaufzugehen.
Das Gedränge war dichter als noch vor einer halben Stunde. Alle Welt schien den warmen Tag genießen zu wollen. Auf der anderen Straßenseite stand eine Gruppe Menschen am Bordstein und wartete auf eine Lücke im Verkehr. Innes blieb abrupt stehen.
Sie war auf die Fahrbahn getreten und überquerte sie in seiner Richtung. Sie trug einen Filzhut mit schmaler Krempe, einen Wollmantel mit Pelzkragen. Sie hatte ihn nicht gesehen. Die wenigen Sekunden, in denen Innes die sich nähernde Hazel beobachtete, schienen ihm die intensivsten seines Lebens.
Ihr fiel der Rollstuhl auf, wie beinahe jedem, der vorbeikam. Ein schneller Blick zu der Frau, die darin saß. Ein zweiter Blick hinauf zu ihrem Begleiter. Genauso machte es Hazel. Ihr Blick glitt über die Frau mit der dunklen Brille, einmal, noch einmal – und blieb hängen. Innes sah, wie Hazels Gesicht sich veränderte, wie der leicht träumerische Ausdruck zu Erschütterung wurde. Sie sah zu Innes hinauf.
Er hatte Hazel seit dem Tag, an dem sie in Halifax von ihm fortgegangen war, nicht mehr gesehen. Louise, von Kindheit an eifersüchtig, war wütend auf ihre Schwester, die weder blind noch gehbehindert war. Louise duldete nicht einmal die Erwähnung von Hazels Namen in ihrem Haus.
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