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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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verlassen hatte. Sie würde heute gegen Abend die Aufsätze der Schüler in ihrem Kurs über amerikanische Geschichte korrigieren und sich danach mit der Trainerin der Mädchen treffen, die im Basketballteam spielten. Agnes war die Assistentin, und im kommenden Herbst würde sie mit ihren Mädchen Hockey trainieren, um sie auf eine, wie sie hoffte, siegreiche Saison vorzubereiten. Sie hatten in diesem Jahr eine Chance auf den Sieg. Molly Clapper würde zurückkommen. Molly schlug gute Ecken, hatte einen hervorragenden Rückhanddrive und den Instinkt, stets im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein. Und so würde es weitergehen – immer weiter –, bis wann? Bis zu ihrem Tod? Oder zu ihrem Ruhestand? Ihr Leben – ihr Leben  –, das vor zwei Tagen noch so reich an Möglichkeiten schien, kam ihr jetzt erschreckend leer vor.
    Eine weiße Limousine kam die gewundene Auffahrt herauf. Jerry und Julie standen wartend am Fuß der Vortreppe. Der Wagen hielt, ein Fahrer stieg aus und öffnete sofort die hintere Tür auf der Fahrerseite. Mit schwingendem Schritt – als wäre er froh, abfahren zu können – ging Jerry um das Fahrzeug herum und stieg ein. Julie wartete geduldig, bis der Fahrer die hintere Tür auf der anderen Seite aufmachte. Mit dem Pelz über dem Arm glitt sie anmutig in den Wagen. Ehe der Fahrer die Tür schloß, schob sie den Pelz neben sich auf den Sitz, ein kleines Tier, das Mann und Frau trennte.
    Harrison war in der Mitte des Rasens stehengeblieben. Was tat er denn da? Vielleicht wollte er sich nicht von Jerry und Julie verabschieden müssen, bevor sie abfuhren. Agnes würde sich von Nora verabschieden. Sie wollte ihr für das Wochenende danken, für das Essen und das schöne Zimmer. Die anderen würde sie lieber nicht mehr sehen, wenn das möglich war. Bill und Bridget würden wissen, daß Agnes ihnen alles Gute wünschte. Sie würde ihnen nach ihrer Rückkehr an die Schule schreiben. Ja, ein guter Gedanke. In einem Brief ließ sich doch viel mehr sagen als bei einem kurzen Abschied.
    Harrison hatte sich immer noch nicht von der Stelle bewegt. Er stand wie vom Donner gerührt und starrte zu den Berkshires hinaus. Es tropfte von den Dächern, hier und da war das Poltern ins Rutschen geratener Schneemassen zu hören. Das Licht war gleißend, es mußte warm sein draußen. Agnes konnte beinahe zusehen, wie der Schnee verschwand. War das möglich? Konnte man tatsächlich zusehen, wie Schnee verschwand – schmolz und verdampfte?
    Harrison – Innes – tat einen Schritt vorwärts. Aber Innes wäre nicht in einem Gasthof in den Berkshires, er hielte sich vielleicht in einer Stadt auf. Nicht in Toronto, beschloß Agnes. In New York. Sie konnte Innes sehen, wie er die Madison Avenue hinunterging und Louise im Rollstuhl vor sich her schob. Es war das Jahr – Agnes rechnete – 1934. Da war das Empire State Building schon drei Jahre alt. Vielleicht waren Innes und seine Frau nach New York gekommen, um diese erstaunliche Sehenswürdigkeit zu bewundern (na ja, Louise natürlich nicht; Louise konnte ja nicht sehen). Louise und Innes hatten einen kleinen Urlaub von Toronto genommen, von der Praxis, von den Kindern. Oder könnten die Kinder – Angus, vierzehn, und Margaret, acht – bei ihnen sein? Nicht direkt bei ihnen, aber vielleicht im Hotel, unter der Aufsicht von Louises Mädchen?
    Es war ein warmer Tag Anfang Dezember, nicht weit entfernt vom siebzehnten Jahrestag der Explosion in Halifax, über die weder Innes noch Louise je sprachen, als wäre Louise völlig blind den Straßen Torontos entsprungen, wohin das Paar gezogen war, nachdem es – sehr zu Louises Freude – in aller Eile in Halifax geheiratet hatte. Louise brauchte den Rollstuhl nicht wegen ihrer Blindheit, sondern weil sie außerdem lahm war. Der zertrümmerte Knöchel war nie richtig geheilt. Von ihrem Mann umsorgt und mit beträchtlicher Hilfe von außen (ja, ganz sicher ein Mädchen im Hotel), hatte Louise zwei Kinder geboren und großgezogen, sich als Ehefrau eines renommierten Augenarztes etabliert (Innes’ Ruf war ihm nach Toronto vorausgeeilt) und zeigte sich sogar gelegentlich bei gesellschaftlichen Ereignissen. (Hatte die Wirtschaftskrise sich auf diese kanadische Stadt ähnlich ausgewirkt wie auf die amerikanischen Städte? Ja, sagte sich Agnes, das war fast unumgänglich.)
    Trotz allem jedoch, was sie erreicht hatte, wirkte Louise bei näherer Betrachtung wie eine Frau, die nicht sehen und in keiner Weise für sich sorgen
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