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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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konnte. Da war zum einen die Sonnenbrille: zwei dunkle Kreise, mit einer schmalen goldenen Brücke verbunden. Ihr Haar war irgendwie trockener und glanzloser als das anderer Frauen. Die Haarspangen saßen leicht schief, die Lippen waren nach Gefühl gemalt. Konnte Louise sich vorstellen, wie ihr grüner Tuchmantel, dessen Farbe ihr nicht unbedingt schmeichelte, an ihr aussah? Suchte Louise im Rollstuhl Kaufhäuser auf und ließ sich von einer Freundin zwischen Kleiderstangen hindurchschieben? Überließ es die Arztfrau, die sich den Vierzigern näherte, ihrem Mann, Schuhe und Hüte für sie auszusuchen?
    Ganz klar sah Agnes dieses Paar vor sich, das seit siebzehn Jahren zusammen war. Dr. Finch, in Hut und langem braunem Mantel hinter dem hölzernen Rollstuhl mit den Gummireifen, wie er seine Frau, die mit den Jahren schwerer geworden war, die leichte Steigung hinaufschob. Er wirkte nicht angestrengt. Er sah, im Gegenteil, beinahe glücklich aus. Nicht unbedingt weil er mit seiner Frau zusammen war, entschied Agnes. Eher über das Abenteuer dieser Reise, über die schlichte Tatsache, Toronto entronnen zu sein – Kanada, um ehrlich zu sein. New York besaß eine Vitalität, selbst mitten in der Depression, die in Toronto, so kultiviert diese Stadt im Norden auch sein mochte, nicht vorstellbar war.
    Louise sagte (und Agnes hörte aufmerksam zu), sie sollten zu Macy’s gehen. Joan habe ihr erzählt, das sei ein phantastisches Kaufhaus. Ob sie und Innes dazu noch Zeit hätten? Wann das Konzert in der Carnegie anfange? Konzerte waren wie geschaffen für Louise, die nicht sehen konnte.
    Agnes ging zum Schreibtisch.
Innes antwortete stets äußerst höflich auf die Fragen seiner behinderten Frau, auch wenn ihr Ton quengelig war, was in letzter Zeit häufiger vorzukommen schien. Er konnte sehen und sie nicht, woran sie ihn von Zeit zu Zeit gern erinnerte. Heute etwa hatte ihre Stimme trotz der schönen Reise einen vorwurfsvollen Unterton. Louise war müde. Sie war häufig müde. Blindheit war so anstrengend. Man mußte immer aufmerksam zuhören. Man mußte sich Bilder machen. Wie stets empfand Innes Mitleid mit seiner Frau, die den atemberaubend schönen Turm des Empire State Building nicht sehen konnte. Die nur das Lärmen der Menschen um sie herum hören konnte. Die die weihnachtlichen Schaufenster in ihrer Pracht nicht bewundern konnte.
Innes, der sich vorsichtig einen Weg durch den Matsch suchte, achtete nicht nur darauf, wohin er selbst die Füße setzte, sondern auch darauf, daß Louise in ihrem Rollstuhl nicht von den aufspritzenden Schmutzfontänen der entgegenkommenden Busse und Taxis getroffen wurde. Innes und Louise fuhren selten Taxi. Der Kampf, Louise in ein Taxi hineinzuhelfen, war mühsam und anstrengend. Sie verzichteten auf Verkehrsmittel wann immer möglich. Innes hatte im Lauf der Jahre kräftige Arme und einen breiten Brustkorb bekommen. Im Gegensatz zu den meisten anderen auf der bevölkerten Straße spürte er die leichte Steigung, mit der man fertig werden mußte, wenn man eine Frau von 65 Kilo im Rollstuhl schob. Er beklagte sich nicht. Er wurde nur ärgerlich, wenn ein Vorüberkommender Louise anstarrte, zuerst betroffen, dann mitleidig. Nicht nur, weil er den frechen Blick ungezogen fand, sondern weil er ihn unangenehm an eigene kaum verdrängte Gefühle erinnerte.
Er fragte sich, ob er und Louise besser in New York hätten leben sollen, wo die Gesellschaft offener war, nicht so streng abgegrenzt. In Toronto hatte Louise ihre Freunde und ihre Familie, aber es fehlte ihr an Beschäftigung, und dieser Mangel brachte eine Reihe unerfreulicher Symptome hervor: Langeweile, Reizbarkeit, auch Weinerlichkeit, eine Neigung zu Hysterie. Sie konnte sich die Zeit nicht wie andere Frauen der Mittelklasse mit Handarbeiten oder Lesen vertreiben. Anfangs hatte sie sich geweigert, Blindenschrift zu lernen, inzwischen beherrschte sie sie ungefähr so gut wie ein normaler Siebenjähriger das Lesen.
Aber das waren Gedanken für später, für die Heimreise mit der Bahn nach Toronto. Jetzt wollte Innes die freien Tage genießen. Das Hotel mit dem faszinierenden Modell seiner selbst in einer Glasvitrine im Foyer. Die Restaurantbesuche mit Margaret und Angus, Margaret im Kleid einer Erwachsenen mit perlenbesetztem schwarzem Gürtel. Ein Mittagessen mit einem ehemaligen Kommilitonen, eine Stadtrundfahrt im Buick des Arztes. Besonders liebte Innes die einsamen Streifzüge durch die Stadt, wenn Louise ruhte. Dieses Gehen
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