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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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starb.
    Frohen Herzens und in ihrem Schöpfergeist befriedigt, klappte Agnes ihr Heft zu und verstaute es im Rucksack. Der Stift fiel zu Boden, und sie bückte sich, um ihn aufzuheben. Als sie sich aufrichtete, nahm sie am Rand ihres Gesichtsfelds wieder die öligen zylindrisch aufsteigenden Schlieren wahr. Vielleicht hatten sie mehr mit dem Blutdruck zu tun, dachte sie, als mit dem Sehvermögen.
    Sie würde die Geschichte beenden, wenn sie wieder zu Hause war. Vielleicht würde sie sie sogar zur Veröffentlichung anbieten. Warum nicht? Wozu wurden Geschichten erfunden, fragte sich Agnes, als sie die Sporttasche über die Schulter schwang, wenn nicht, um die Realität zu korrigieren? Wenn nicht, um Geschichte neu zu schreiben? Wenn nicht, um die eigenen Fieberträume zu lindern?

BRIDGET , die am Tag zuvor kaum etwas gegessen hatte – die Hochzeit, die Aufregung, die gepanzerte Unterkleidung –, war schrecklich hungrig, aber sie wollte Bill nicht wecken. Sie ging in den Speisesaal und suchte sich einen Platz am Fenster, während die Sonne langsam den Hügel hinaufkroch. Nach einer Weile machte sie die Frau auf sich aufmerksam, die sie immer wieder im Gasthof beim Verrichten verschiedener Aufgaben gesehen hatte: beim Bedienen, am Empfang, einmal sogar beim Koffertragen.
    »Was kann ich Ihnen bringen?« fragte die Frau.
    »Ich weiß, es ist noch zu früh«, sagte Bridget, »aber wenn Sie mir einfach bringen könnten, was da ist? Kaffee? Oder Saft? Müsli vielleicht?«
    »Sie sind die Braut«, sagte die Frau.
    »Ja«, antwortete Bridget.
    Es müßte, dachte Bridget, ein Wort für »die Braut von vierzig Jahren« geben. Die Inuit könnten so ein Wort haben.
    Sie sah interessiert zu, wie die Frau den Bestellzettel in einen Speisenaufzug legte und diesen in die Küche hinunterschickte. Hatten Matt und Brian das Ding gesehen? Die Zeit, da einer von ihnen den anderen herausgefordert hätte, einzusteigen und eine kleine Fahrt zu machen, war noch nicht lange vorbei.
    Bridget würde die Jungen um zehn wecken, damit sie sich in Ruhe anziehen und packen konnten. Es war zu hoffen, daß ihre Smokings noch in allen Einzelteilen vorhanden waren. Sie konnte sich vorstellen, daß die Sachen, Kummerbunde, Manschettenknöpfe und Fliegen, unten im Souterrain, wo der Billardtisch stand, über den ganzen Fußboden verstreut waren.
    Bridget würde ihre Sachen selbst packen und das Gepäck von Matt und Brian zum Auto hinaustragen lassen. Dann würde sie sehen, ob sie Nora fand, um ihr zu danken. Für die liebevolle Aufnahme, für das hervorragende Essen, für all die Vorbereitungen. Nora war mehr als großzügig gewesen. Bill bezahlte etwas (den genauen Betrag hatte er Bridget nicht verraten), aber sie wußte, daß Nora das Wochenende aus eigener Tasche subventioniert hatte. Nicht nur für sie und Bill, sondern für die ganze Gesellschaft.
    Sie dachte an Jerry und Julie. Würde ihre Ehe die Heimfahrt überstehen? Sie dachte auch an Agnes’ überraschende Beichte (das war wirklich eine Überraschung gewesen; nichts hatte darauf hingedeutet). Und sie fragte sich, was für eine Zukunft Agnes erwartete. Würde die Enthüllung das Ende der Beziehung sein? Oder würde sie vielleicht Jim Mitchell den Anstoß zu handeln geben? Es war schwer, es dem Mann nicht übelzunehmen, daß er Agnes jahrelang hatte zappeln lassen. Oder sollte man Jims Treue zu seiner Familie bewundern? Bridget fürchtete, daß ihre Heirat, ohne daß sie es gewollt hatte, zwei anderen Paaren zum Anlaß geworden war, sich zu trennen. Was für eine Dynamik diese Treffen besaßen. War das der Grund, weshalb so viele einfach nicht kamen?
    Dann war da noch das Geheimnis um Nora und Harrison. Zwischen den beiden knisterte es – das merkte jeder. Nora hatte bei der Trauung neben Harrison gesessen. Hatte das etwas zu bedeuten? Bridget konnte nicht fragen. Dazu kannte sie Nora nicht gut genug. Sie dachte an die Art, wie Nora nach Agnes’ ungewöhnlicher Herausforderung an die ganze Gesellschaft den Raum verlassen hatte.
    Bridget hatte manches von jenem so weit zurückliegenden Abend noch in Erinnerung. Sie erinnerte sich, daß sie und Bill so diskret es ging in einer Ecke geknutscht hatten (es war zu kalt gewesen, um an den Strand zu gehen), und hin und wieder war einer von ihnen aufgestanden, um noch eine Cola zu holen. Sie erinnerte sich, daß es sehr laut war, daß die Jungen sich schneller als sonst zu betrinken schienen. Alle waren in einer Art Endzeitstimmung. In einer Woche
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