Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Hexe in Nevermore

Eine Hexe in Nevermore

Titel: Eine Hexe in Nevermore
Autoren: Michele Bardsley
Vom Netzwerk:
Land folgen. Sie könnte sich am Strand herumtreiben und mit Aquamantie ihr Geld verdienen. Nur sehr wenige Mitglieder aus dem Geschlecht der Haie lebten im Landesinnern, die meisten wohnten an der Küste oder auf einer Insel oder gleich auf einem Boot. Doch leider war ihre eigene Wassermagie nicht stark genug ausgeprägt, um bei ihrem Geschlecht um Zuflucht zu bitten. Noch dazu galten die Haie tendenziell als eher abweisend, zu pragmatisch und auch rücksichtslos. Mitglieder mit so limitierten Fähigkeiten wie sie fanden sich in der Regel in der Unterhaltungsbranche wieder oder als überqualiflzierte, wenn auch hochverehrte Tellerwäscher.
    Lucinda war so pleite, dass sie liebend gern für ein paar Dollar als Tellerwäscherin gearbeitet hätte. Für sie war es leichter, Dinge zu tauschen, als sie mit hart erarbeitetem Geld zu kaufen – denn Geld rann buchstäblich durch ihre Finger. In Mexiko könnte sie ihre Fähigkeiten vielleicht im Austausch gegen Unterkunft und Verpflegung anbieten. Dort war alles weniger restriktiv, und es wäre auch einfacher, sich zu verstecken.
    Vor Lucinda tauchten die viereckigen Backsteingebäude der Main Street auf. Anders als die meisten Kleinstädte war Nevermore vom sogenannten Fortschritt noch weitgehend unberührt. Hier gab es keine großen Einkaufszentren und keine Fast-Food-Ketten, die sich in anderen Städten wie Geschwüre ausbreiteten. In vielen kleineren Städten versuchte man, das historische Erbe zu erhalten, um Touristen anzulocken, und trotzdem gleichzeitig so viel Großstadt hereinzulassen wie möglich.
    Doch in Nevermore sah alles irgendwie noch genauso aus wie achtzehnhundertfünfundvierzig.
    Seit sie Grays Haus verlassen hatte, waren ihr weder Autos noch Menschen begegnet. Es war ziemlich einsam hier.
    Der eben noch sanfte Regen verstärkte sich zusehends. Jetzt prasselte er kalt und wütend auf sie herunter. Lucinda verstellte den Riemen ihrer Reisetasche, damit sie sie auf die Schulter nehmen konnte, und beschleunigte ihren Schritt. Als sie das Piney Woods Café erreichte, das sich an der Ecke zwischen Brujo Boulevard und Main Street befand, war sie bis auf die Haut durchnässt. Über der Reihe von beschlagenen Glasscheiben hing ein abgeblättertes handgemaltes Schild, auf dem ein goldener Funkenregen rund um ein paar Pinien zu sehen war, die den Namen des Lokals bildeten. Wahrscheinlich sollten die Funken für Magie stehen, doch für Lucinda sahen die Bäume aus, als gingen sie in Flammen auf. Darunter stand geschrieben, dass das Lokal bereits seit über einhundertfünfzig Jahren in Nevermore existierte.
    Zitternd blieb sie draußen stehen, unfähig, hinein ins Warme zu gehen. Sie war es leid, immer zurückgewiesen und vorverurteilt zu werden. Sie hatte viele Leute um Hilfe gebeten, aber niemand hatte ihr geholfen. Und zu ihrer Schwester zu gehen kam überhaupt nicht infrage. Kerren war immer schon ein Miststück gewesen. Doch in der Nacht, als sie Gray opferte, war sie zu etwas Schlimmerem mutiert – zu einer Halbdämonin. Offensichtlich hatte sie das Kleingedruckte nicht gelesen, als sie sich auf die Ehe mit Kahl einließ, denn jeden Monat kehrte Kerren für drei Tage in ihrer menschlichen Gestalt auf die Erde zurück, meist, um auf Kosten ihres Mannes Unheil zu stiften. Gleichzeitig frönte sie ihrer Shopping-Manie.
    Endlich öffnete Lucinda die Tür des Lokals. Sie erschrak, als über ihr eine Klingel ertönte. War es zu viel verlangt, ein Restaurant betreten und sich einen Platz suchen zu können, ohne dass alle Anwesenden gleich auf sie aufmerksam wurden? Sie konnte sowieso nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass sie klatschnass, eine Hexe und eine Fremde war.
    In diesem Augenblick fiel ihr ein, wie Gray sich oft über das gemütliche Kleinstadtleben ausgelassen hatte. Im gleichen Atemzug hatte er jedoch auch erwähnt, dass jeder über jeden alles wusste – manchmal, bevor man es selbst wusste.
    So etwas behagte ihr gar nicht.
    Damals hatte Gray ein verschmitztes Zwinkern gehabt und für jeden ein gutes Wort übrig. Sie selbst war zu jener Zeit viel zu sehr mit ihren Teenager-Wirren beschäftigt gewesen, als dass sie ihm große Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Er war einfach der Freund ihrer großen Schwester gewesen und deshalb völlig uninteressant für sie. Zu ihrer Hochzeit hatten die beiden nur die Familie und die engsten Freunde eingeladen. Diese Schlacht zumindest hatte Gray für sich entschieden, denn natürlich hatte ihre Schwester sich eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher