Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Hexe in Nevermore

Eine Hexe in Nevermore

Titel: Eine Hexe in Nevermore
Autoren: Michele Bardsley
Vom Netzwerk:
über die Straße. Die Tasche schlug gegen ihren Rücken, und ihr Herz klopfte wie wild. Magie folgte ihr, denn sie hatte sie nicht ordentlich entlassen. Sie rutschte auf dem nassen Bordstein aus und schlitterte auf das Gebäude zu, konnte sich aber rechtzeitig abfangen, drehte sich herum und lehnte sich gegen die Backsteinwand. Sie rief den Zauber zu sich zurück und sprach ein kurzes Dankgebet für die Lebewesen, von denen sie sich die Energie geliehen hatte.
    In diesem Moment kam der schlitternde Wagen mit einem Quietschen mitten auf der Kreuzung zum Stehen.
    Die Front des Wagens zeigte genau auf Lucinda, als wäre sie ein Kompass und sie selbst Norden. Da der Wagen getönte Scheiben besaß, konnte sie die Insassen nicht sehen und auch nicht, wie viele es waren. Wieder heulte der Motor aggressiv auf – offensichtlich wollte der Fahrer ihr mitteilen, dass er sie beim nächsten Mal auf jeden Fall überfahren würde.
    Aber er besaß nicht den Mut, auszusteigen und sich direkt mit ihr anzulegen.
    »Leck mich doch«, murmelte sie, zeigte dem ominösen Fahrer den Stinkefinger und rannte dann schnell ins Café. Sie selbst war heute auch nicht gerade die Mutigste.
    »Aha. Da sind Sie ja.« Die seltsame Bemerkung stammte von einer Frau mit kakaobrauner Hautfarbe und jamaikanischem Akzent, die kaum einen halben Meter neben ihr stand.
    Lucinda war misstrauisch. Ob die Frau gesehen hatte, was draußen vorgefallen war, oder ob sie es ihr erklären sollte? Lucinda überlegte, wie sie vorgehen sollte. Vielleicht war es sogar am besten, den Vorfall zur Anzeige zu bringen. Doch nach kurzer Überlegung beschloss sie, so zu tun, als sei nichts gewesen.
    Die Frau lächelte ihr offen zu und zeigte dabei funkelnde perlweiße Zähne. Sie trug eine lila getönte Sonnenbrille. Genau genommen war nur ein Glas lila getönt, das andere war komplett schwarz. Die Frau maß mindestens einen Meter achtzig und trug ein lilafarbenes Kleid, das ihre kurvige Figur betonte, dazu hochhackige Stiefel mit auf den Zehen aufgestickten lilafarbenen Rosen. Ihre unzähligen Rastazöpfchen waren in verschiedenen Lilatönen gefärbt. Was nicht lila war, war schwarz.
    »Ich spüre ein gewisses Motto«, sagte Lucinda und sah die Frau an. Dann schnitt sie eine Grimasse. »Tut mir leid. Das war unhöflich.«
    »Ach echt? Lila ist meine Farbe. Sie ist meine Zauberkunst, mein juju, verstehst du? Es ist keine Schande, das zu mögen, was man ist.«
    »Beneidenswert.«
    »Na ja«, murmelte die Frau, während sie Lucinda musterte. »Man muss natürlich zuerst wissen, wer man ist, bevor man sich selbst mögen kann.« Sie nickte. »Ich bin Ember. Komm rein und ruh dich aus.«
    Die einfache, aber herzliche Einladung traf Lucinda unvorbereitet. »Oh … danke.«
    »Ich glaube, du kannst ein paar Streicheleinheiten gebrauchen.« Ember nahm ihr die Reisetasche ab. »Komm, relax erst mal. Ich krieg dich schon wieder hin.«
    »Ich …« Lucinda blickte ihrer Retterin hinterher, die sich jetzt umdrehte und in den hinteren Bereich des Cafés verschwand, sodass sie ihr wohl oder übel folgen musste. Doch Lucinda zögerte. Der Raum war nur schwach beleuchtet, überall hingen Stoffe. Gemütlich war es schon … oder eher friedlich. Der kleine Eingangsbereich, in dem sie stand, war nur ein paar Schritte entfernt von einer langen Theke, vor der eine Reihe schwarzer Lederstühle stand. Auf den ersten Blick sah es hier aus wie in einer Bar, doch die Flaschen, die hinter der Theke auf den Regalen standen, waren nicht mit Alkohol gefüllt. Hier drin roch es nach Erde – vermutlich fanden hier regelmäßig irgendwelche Weihrauchrituale statt.
    Plötzlich bemerkte Lucinda, dass jemand sie beobachtete – jemand, der an der Bar saß. Der Mann war groß und muskulös, ohne ein Gramm Fett. Er trug einen abgewetzten Cowboyhut und musterte sie. Seine hellbraune Uniform hatte schwarze Nähte, und auf seiner rechten Brust prangte ein fünfzackiger Stern. In seinem Gürtel steckten die üblichen Utensilien eines Gesetzesvertreters: eine Pistole, Handschellen, Schlagstock und ein Beutel, in dem sich mit Sicherheit Justiz-Edelsteine und andere anerkannte magische Gegenstände befanden.
    Lucinda schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter.
    »Neu in der Stadt?«, fragte der Mann sie jetzt mit rauer Stimme. »Waren Sie schon im Besucherzentrum?«
    Das »Besucherzentrum« war nichts anderes als die »Zauber-Kontrollstelle«. In größeren Städten befanden sich üblicherweise die Botschaften aller
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher