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Eine Hexe in Nevermore

Eine Hexe in Nevermore

Titel: Eine Hexe in Nevermore
Autoren: Michele Bardsley
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der Regen auf sie einpeitschte, verspürte sie plötzlich ein Gefühl von Erleichterung. Im Piney Woods Café herrschte eine negative Energie, die von der Besitzerin ausging. Im Café selbst war es sicherlich am schlimmsten, aber dieses Energieungleichgewicht war in der ganzen Stadt zu spüren. Lucinda hatte es sofort wahrgenommen, kaum dass sie angekommen war. Es bewegte sich auf und ab wie eine Wippe. Trotzdem war Nevermore ein hübscher Ort, und trotz der starken magischen Ausschläge konnte sie hier einen tiefen Frieden ausmachen. Im Moment war er zwar verdeckt, aber er war da. Vielleicht musste hier erst etwas passieren, bis dieser Frieden an die Oberfläche kam – wobei sie nicht sagen konnte, was. Sie trottete den Bürgersteig entlang. Fast die gesamte Strecke hierher hatte sie per Anhalter zurückgelegt, aber wer würde sie schon bei diesem Wetter mitnehmen? Nicht einmal bis Dallas würde sie kommen, geschweige denn bis zur Grenze nach Mexiko.
    Zitternd vor Kälte und Erschöpfung und Hunger umklammerte sie den Griff ihrer Reisetasche. Komm schon, Lucy. Alles wird gut. Sie seufzte tief, blieb an der nächsten Ecke stehen und betrachtete das Straßenpflaster. Zwei Reihen schwarze Backsteine, andersherum verlegt als die roten, markierten den Fußgängerüberweg. Es gab weder eine Ampel noch ein Stoppschild. Wie wurde hier der Verkehr geregelt? Andererseits gab es in einem Ort mit gerade einmal 503 Einwohnern wohl auch nicht allzu viele Fahrzeuge.
    Beklommen sah Lucinda sich um. Es kribbelte in ihrem Nacken, und sie hatte das Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Wahrscheinlich waren es die Leute aus dem Café, die ihre Nasen an den Scheiben platt drückten und nur darauf warteten, dass sie vom Blitz getroffen wurde.
    Außer ihr war niemand auf der Straße, und es war auch kein Auto unterwegs. Alle Wagen, die sie sah, parkten. Nevermore war wirklich ein ruhiges Fleckchen. Wie hatte Gray es damals beschrieben? Sobald es dunkel wurde, klappte man hier die Bürgersteige hoch. Nach der aufregenden Zeit in Europa und in New York hatte sie sich nicht vorstellen können, jemals in einer Kleinstadt leben zu können. Ohne Gourmetrestaurants, ohne Theater, ohne Coffeeshops oder die Nobelkaufhauskette Neiman Marcus. Noch vor wenigen Monaten hätte dieser Gedanke sie abgestoßen. Doch heute, wo sie nichts mehr besaß als die paar Kleider in ihrer Tasche und weder Geld noch Freunde hatte, erschien ihr Nevermore wie eine Zufluchtsstätte. Beinahe kam es ihr so vor, als gehörte sie hierher.
    Jetzt werd nicht albern, Lucy.
    Selbst wenn Gray es ihr gestatten würde, sich hier niederzulassen – und das würde er niemals tun –, würde sie überall auf dieselbe Ablehnung stoßen wie eben im Café. In Mexiko dagegen würde es niemanden kümmern, wer sie war. Dort landeten viele Ausgestoßene, die, so wie sie, nichts und niemanden hatten.
    Liebe Göttin, war sie müde!
    Noch immer stand sie auf dem Bürgersteig und fragte sich, ob sie sich auf den Weg zum Highway machen sollte oder dieses andere Café aufsuchen – zumindest so lange, bis der Sturm nachgelassen hatte. Durch den dichten Regenvorhang versuchte sie sich ein Bild von dem Lokal zu machen, das gleich gegenüber auf der anderen Straßenseite lag. Es war ein zweistöckiges Backsteingebäude mit Flachdach und lila bemalt. Dadurch sah es aus wie ein riesiges Stück einer Geburtstagstorte. Der goldene Schriftzug auf der einzigen, abgedunkelten Fensterscheibe lautete:
     
    Ember’s Teestube und Konditorei
    Jeder willkommen
     
    »Hoffentlich meinst du es wirklich so«, murmelte Lucinda. Jetzt eine heiße Tasse Kamillentee mit einem Zitronenplätzchen – welch himmlische Vorstellung! Sie sah sich nach beiden Seiten um und marschierte dann los.
    Als sie den Fußgängerüberweg zur Hälfte passiert hatte, schreckte sie das laute Dröhnen eines Motors so sehr auf, dass sie stehen blieb, um zu sehen, woher das Geräusch kam. Ein schwarzer Mustang, dessen Motorhaube mit roten und gelben Flammen bemalt war, raste die Straße herunter.
    Genau auf sie zu!
    Sofort bediente sich Lucinda ihrer Aquamantie und befahl dem Regen, eine Schleuse zwischen ihr und dem heranrasenden Wagen zu bilden.
    Dann schrie sie: »Eis!«
    Sofort begannen die Regentropfen als spitze kleine Eisdolche vom Himmel zu fallen. Sie dirigierte sie zu den Reifen des Mustangs, und sie kreisten die Räder ein.
    Keine sechs Meter von ihr entfernt platzten alle vier Reifen.
    Lucinda ließ die Arme sinken und rannte
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