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Eine Hexe in Nevermore

Eine Hexe in Nevermore

Titel: Eine Hexe in Nevermore
Autoren: Michele Bardsley
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Laufen. Und jeden Tag, jeden Augenblick, immer lebte sie mit einem Blick über die Schulter und wartete auf das Unausweichliche – dass man sie finden und zurück nach New York bringen würde.
    Bernard Franco war ein gnadenloser Mann.
    Gray zögerte, legte eine Hand auf den Türpfosten und drehte sich noch einmal zu ihr um. Kalt sah er sie an.
    »Du warst mit meiner Schwester verheiratet«, flüsterte sie. Trostlosigkeit schwang in ihrer Stimme mit.
    »Ich habe sie geheiratet, weil ich sie geliebt habe.« Gray sprach mit ausgeprägtem texanischen Dialekt, den er mal als »Cowboy-Kadenz« bezeichnet hatte. Die Texaner kauten jedes Wort, bevor es ihren Mund verließ, und Gray war im Osten des Bundesstaates aufgewachsen. Auch er wusste, was Schande bedeutete, obwohl er ein Opfer war. Sie selbst war dagegen nicht unschuldig. Sie wusste nur einfach nicht, wohin. Darum war sie jetzt hier, in ihrer höchsten Not, so verzweifelt, dass sie Gray um Hilfe bat.
    »Lass es mich dir erklären. Bitte!«
    Sein Blick ging an ihr vorbei, hinaus auf die menschenleere Straße vor seinem Haus. Der Garten war zugewuchert und voller Unkraut, und der kleine Fußweg, der zum Haus führte, uneben und rissig. Nicht einmal die große Veranda wirkte einladend. Sie war leer, keine Möbel, die Bretter vom Alter und vielen Regen abgeblättert und grau.
    »Jeder Zauberlehrling würde erkennen, dass du mit einem Fluch belegt bist«, sagte er. »Du bist Gift, Lucinda.«
    »Das ist … ein Missverständnis«, log sie flüsternd, zu ängstlich, es laut auszusprechen. Denn was sie getan hatte, was ihr den Fluch eingebracht hatte, war alles andere als ein Missverständnis gewesen.
    »Was ist der Grund dafür, dass dein Liebhaber so zornig ist?«
    Er wusste also von Bernard, und sein Ton ließ keinen Zweifel daran, welche Meinung er von ihrem Ex hatte. Oder versuchte er vielleicht nur, eine Distanz zwischen ihnen aufzubauen? Die Kluft konnte doch schon jetzt nicht größer sein. Das kleine Fünkchen Hoffnung, das sie bis zu seiner Haustür gebracht hatte, erstarb in diesem Moment.
    Gray würde ihr nicht helfen.
    Sie streckte einen Arm nach ihm aus, doch er wich zurück.
    »Ich … ich bezahle dich auch.«
    Das zu sagen war ein Fehler. Sie erkannte selbst, wozu die Verzweiflung sie getrieben hatte, doch es war zu spät. Die Worte ließen sich nicht zurücknehmen und auch das dadurch entstandene Gefühl nicht.
    Gray zog die Brauen zusammen, seine Augen funkelten wütend. »Du solltest mich besser nicht belügen, das weißt du. Du hast kein Geld und wirst nie mehr welches haben.« Er schüttelte den Kopf. »Einmal von einer Rackmore-Hexe verarscht zu werden, reicht mir. Such dir woanders einen Beschützer!«
    Trotz ihrer Erschöpfung wurde sie jetzt wütend. »Ich wusste gar nicht, dass du so ein Arsch bist!«
    »Vor zehn Jahren war ich auch noch keiner.« Er warf ihr einen letzten vernichtenden Blick zu. »Dafür kannst du dich bei deiner Schwester bedanken.«
    »Aber ich bin nicht meine Schwester.«
    Für einen Sekundenbruchteil sah sie so etwas wie Mitleid in seinem wütenden Blick aufflackern. Doch seine Worte zerstörten sogleich ihre Hoffnung: »Trotzdem bist du eine Rackmore. Geh, Lucy. Verschwinde einfach.«
    So leicht würde sie es ihm nicht machen. Aber was sollte sie unternehmen? Grays Herz war vor Jahren zu einem Stein geworden, und das war ganz allein seine Schuld. Lucinda starrte ihn trotzig an, bis sich die Tür schloss. Das leise Klicken war wie ein Echo seiner Gleichgültigkeit. Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals, und ihre Augen brannten, aber … Scheißegal. Allein das Wetter schien Mitleid mit ihr zu haben. Aus den dicken grauen Wolken begann es zu regnen. Der Himmel weinte.
    Sie schnappte sich ihre Reisetasche, in der sich alle ihre weltlichen Besitztümer befanden, und zog sich auf den überdachten Teil der Veranda zurück. Gray wohnte in einem Haus aus viktorianischer Zeit, dessen pinkfarbener Anstrich inzwischen verblichen und grau war. Das Haus sah genauso verwahrlost und traurig aus wie sein Besitzer.
    Tatsächlich war Gray ihre letzte Hoffnung gewesen. Nirgendwo hatte sie Glück gehabt. Kaum hatte Bernard das Edikt gegen sie erlassen, wendeten sich alle ihre Freunde und Bekannten von ihr ab. Niemand war bereit, ihr zu helfen – und sie konnte es ihnen nicht einmal übel nehmen. Bernard war ein schwieriger Mensch. Und mit »schwierig« meinte sie »gefühlloser Schwachkopf«.
    Das hatte sie nun davon, dass sie die Geliebte
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