Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Hexe in Nevermore

Eine Hexe in Nevermore

Titel: Eine Hexe in Nevermore
Autoren: Michele Bardsley
Vom Netzwerk:
Keiner will dich. Keiner wartet auf dich.
    Nein, schrie er. Ich hin Cray Calhoun. Ich hin ein Drache. Ich werde leben.
    Werde eins mit uns. Du bist das Böse. Du wirst immer das Böse sein.
    Erneut durchfuhr ihn ein Schmerz. Er besaß keinen Körper mehr, aber der Schmerz war real. Er nahm jeden dieser kleinen grausamen Schreckensmomente wahr. Ich werde mich euch nicht beugen, schrie er. Ihr werdet mich nicht brechen!
    Und dann war das Monster da. Das grausame Lächeln entblößte rasiermesserscharfe Zähne, die voller Blut waren. Etwas anderes als diese schreckliche Fratze nahm Gray von dem Ding nicht wahr- nur die seelenlosen schwarzen Augen, die lederne Haut und dieses furchterregende Grinsen.
    Das Herz, verlangte das Monster. Gib mir dein Herz.
    Ich gebe dir überhaupt nichts. Niemals. Gray kämpfte sich durch den Höllenschlamm, brach seinem Willen Bahn. Ich stehe auf der Seite der Göttin. Ich beschwöre das Blut meiner Vorfahren, die Rechtschaffenheit aller guten Drachen, auf dass sie mir helfen!
    Du bist das Böse, riefen die Stimmen. Du bist einer von uns.
    Doch plötzlich zerriss ein gleißendes Licht die Dunkelheit, und die Stimmen schrien vor Enttäuschung auf.
    Eine riesige Pranke tauchte aus der goldenen Helligkeit auf und griff nach Gray. Sein Geist wurde wieder in seinen Körper geworfen. Der Dolch verschwand aus seiner Brust, die schreckliche Wunde schloss sich, die Fesseln zerbrachen, und er wurde vom Opferaltar gehoben. Er schwebte nach oben, immer höher, durch Feuer, durch Fels, durch Erde – bis er auf weichem, taufeuchtem Gras zu liegen kam.
    Zitternd holte Gray Luft und öffnete die Augen. Über ihm sah er die dicht belaubten Zweige eines Baumes, die so weit nach oben ragten, als wollten sie den Mond berühren. Als er sich umsah, stellte er fest, dass er sich auf einer Art Waldlichtung befand. Er könnte in Kalifornien sein oder in Frankreich oder irgendwo. Er hatte keine Ahnung. Er wusste nur, dass er frei war.
    Es fühlte sich an, als wären Reptilienschuppen in seinem Körper, eine seltsame Hitze, und eine Gestalt bemächtigte sich seiner, die ihm fremd war.
    Er war der Hölle entkommen.
    Doch er war nicht alleine herausgekommen.

1. KAPITEL
    Gegenwart
     
    »Heirate mich.«
    Der Mann, der Lucinda Rackmore die Tür geöffnet hatte und nun im Türrahmen stand, zuckte nicht mit der Wimper. Auch sein Gesichtsausdruck veränderte sich kein bisschen. Der Blick seiner blauen Augen spiegelte eine Mischung aus Sorge und Zynismus wider.
    Gray Calhoun sah nicht aus wie ein Zauberer. Seine Haare waren zu lang, die zotteligen Strähnen fielen bis auf seine Schultern und hingen ihm ins Gesicht. Er würde als gut aussehend durchgehen, hätte seine Nase nicht diese Krümmung und wären seine Gesichtszüge nicht so scharfkantig. Die linke Seite seines Gesichts zierte außerdem eine verblasste Narbe, die sich von der Schläfe bis zum Hals erstreckte und unter dem T-Shirt verschwand. Ihre dünnen weißen Linien bildeten ein feines Muster. Lucinda wusste, dass er die Entstellung absichtlich nicht mithilfe seines magischen Talents hatte verschwinden lassen. Er war eben ein Mann, der etwas für Erinnerungen übrighatte.
    Sein eng anliegendes schwarzes T-Shirt betonte seinen muskulösen Körper, so wie die ausgebleichte Jeans auch. Er stand barfuß vor ihr, die sauberen Fußnägel waren sorgfältig geschnitten. Anders als die meisten seiner Art stellte er keine erkennbaren Merkmale seiner Macht zur Schau. Doch sie wusste, dass unter diesem T-Shirt das Symbol für das Geschlecht der Drachen in seine Haut tätowiert war und das Zeichen, das seinen seltenen Status bewies.
    »Bitte, Gray.«
    Sie konnte nichts dagegen tun, aber in ihrer Bitte schwang eine Schuldzuweisung mit. Ein Muskel in seinem Kiefer begann zu zucken, in seinen Augen las sie Schmerz. Er hatte die Kritik nicht überhört, die sie in ihre flehentliche Bitte gepackt hatte. Nun fällte er sein eigenes Urteil.
    »Schönen Tag noch.« Er richtete sich auf, und seine stattliche Körpergröße von eins achtzig wirkte noch imposanter. Dann drehte er sich um. Gleich würde er ihr, wie so viele vor ihm, die Tür vor der Nase zuschlagen. Obwohl er nicht die kleinste Reaktion gezeigt hatte, ertrug sie diese weitere Zurückweisung nicht. Könnte ich doch nur einen Moment zur Ruhe kommen. Sie konnte sich nicht entsinnen, wann sie das letzte Mal richtig hatte durchatmen können oder wie es sich anfühlte, keine Angst zu haben. Die Füße taten ihr weh vom vielen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher