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Eine Hexe in Nevermore

Eine Hexe in Nevermore

Titel: Eine Hexe in Nevermore
Autoren: Michele Bardsley
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eigenen Geschichte interessiert – jedenfalls nicht bis heute. Alle unsere gesammelten Schriften landeten in unserem Privatarchiv in der Ehrwürdigen Bibliothek. Stapelweise vermodernde Dokumente, Tagebücher und persönliche Briefe. Als ich siebzehn war, verärgerte eine kleine Indiskretion meinerseits meinen Vater so sehr, dass er mich bestrafen wollte.«
    »Wovon redest du überhaupt, verdammt?«
    Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Still. Ich erzähle dir eine Geschichte. Ich bin nicht ganz ohne Mitleid für dich, weißt du. Ich finde, du solltest wissen, wieso du sterben wirst.«
    Alles Blut wich aus seinem Gesicht. Kerren wollte ihn töten? Wieso?
    »Keine weiteren Fragen mehr, Gray.« Ihr Gesicht war plötzlich das einer Fremden, hart und kalt wie Eis. »Wenn du mich noch einmal unterbrichst, durchbohre ich dein Herz, und du verschwindest in der Dunkelheit, ohne dass du die verdammten Gründe erfährst.«
    Gray presste die Lippen aufeinander, auch weil er nicht länger an die lustvollen Freuden erinnert werden wollte, die die Berührung dieses verräterischen Biests einst in ihm ausgelöst hatten. Sie strich mit den Fingerspitzen über seine Wange und ließ sie auf seiner schmerzenden Schulter liegen. Dann lehnte sie sich gegen den Opferaltar. Er wusste, er sollte sich besser darauf konzentrieren, wie er sich befreien oder sie umstimmen könnte, doch der Schock lähmte ihn. Die Gedanken bewegten sich wie eine träge Masse, und sein Körper fühlte sich plump und schwerfällig an – vermutlich die Auswirkungen der vergifteten Magie, die ihn umgab.
    »Meine Bestrafung bestand darin, das Archiv zu ordnen. Ich brauchte einen ganzen Sommer dafür. Meine dumme kleine Schwester fuhr nach Paris, während ich in dieser Gruft hocken durfte. Doch es war nicht umsonst. Ich fand ein paar sehr interessante Dinge. Zum Beispiel das Tagebuch des Earl of Mersey, sein persönliches Buch mit Zauberformeln und der kleinen Prophezeiung, die er kurz vor seinem Tod niedergeschrieben hatte. Du kannst dir meine Überraschung vorstellen, als ich von dem Handel mit dem Dämon las und herausfand, dass ich in wenigen Jahren vollkommen mittellos sein würde. Ich? Arm? Auf keinen Fall! Also benutzte ich denselben Zauberspruch und rief mir meinen eigenen Dämonenlord herbei. Er ist sehr gut aussehend und männlich, ein echter Teufel im Bett.«
    Sie zwinkerte Gray zu, und ihm wurde übel. »Im Austausch dafür, dass ich meinen Reichtum und alle meine schönen Dinge behalten durfte, wollte er nur eins – abgesehen von mir, natürlich. Und zwar das Herz eines Drachen. Dein Herz, um genau zu sein.«
    »Du liebst mich nicht.« Diese Erkenntnis traf Gray wie ein Faustschlag. Sein Selbstmitleid war Salz in seinen Wunden. Das schöne Bild, das er sich von seiner Frau gemacht hatte, war falsch. Sie hatte ihn betrogen und verraten.
    Kerren beobachtete das Spiel der Emotionen auf seinem Gesicht mit regem Interesse. Er lieferte ihr offensichtlich ein spannendes Schauspiel. Doch diese Blöße wollte er sich nicht geben. Sein Blick wurde so teilnahmslos wie möglich. Aber sie lachte ihn aus. »Du kannst dich nicht vor mir verstecken. Oder vor dem Schicksal.«
    Plötzlich hielt sie einen Dolch in der Hand, den sie ihm an die Brust drückte. Wo die scharfe Klinge seine Haut berührte, zeigten sich kleine Blutstropfen.
    »Ich habe dich gemocht. Ich habe dich genossen. Ich habe mit dir geschlafen.« Sie beugte sich so dicht über ihn, dass ihr Atem seinen Mund streifte. »Aber nein, mein Liebling. Geliebt habe ich dich nie.«
    »Bitte«, presste er hervor, während ihm Tränen die Wangen herunterliefen. Er wusste nicht einmal, um was er sie anflehte – um Gnade oder um den Tod –, doch er konnte nicht anders. »Bitte, Kerren. Bitte! «
    Angewidert verzog sie das Gesicht und kräuselte die Lippen. »War ja klar, dass du jammern würdest. Wie erbärmlich!« In diesem Moment riss sie den Dolch nach oben und rief: »Für Kahl!«
    Ihr Ziel war wahrhaftig, böse und übernatürlich stark.
    Die doppelt geschliffene riesige Klinge zerschnitt Grays Muskeln, Knochen, Herz und Lunge. Er spürte, wie sie auf dem Rücken wieder aus seinem Körper austrat und über den Stein kratzte. Ein heiserer Schrei kam ihm noch über die Lippen, dann war der grausame Schmerz plötzlich vorbei.
    In der zähen Dunkelheit der Hölle begann Grays Seele zu kämpfen.
    Gefangen, wisperten tausend Stimmen ihm zu. Betrogen. Du hist ein Nichts. Ein Niemand. Keiner lieht dich.
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