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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld
Autoren: Günter Grass
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Schritt, dann stand das Gespann im gestauten Auflauf vor dem Brandenburger Tor oder vielmehr vor dem weit ausgebuchteten, das Tor noch immer sperrenden Betonwall, auf dessen Abriß seit Wochen die Welt mit lauernden Kamerateams wartete.
    Massiv, wie für ewig gebaut. Nur die Verlegenheit einiger Grenzsoldaten, die auf dem oberen Wulst der hier begehbaren Bastion mehr herumstanden als Präsenz zeigten, kündigte die auf demnächst datierte Hinfälligkeit des Bollwerks an. Wir sind sicher: Hoftaller sah das mit gemischten Gefühlen, doch Fonty hatte Freude an den Nebenhandlungen der sonntäglichen Idylle. Junge Frauen und von Müttern hochgehaltene Kinder schenkten den Soldaten Blumen. Zigaretten, Orangen, Schokoladenriegel und natürlich Bananen, jene dazumal demonstrativ beliebte Südfrucht. Und Wunder über Wunder, die kürzlich noch schußfertigen Männer in Uniform ließen sich beschenken, sogar Westsekt nahmen sie an. Und hier, in Sonntagsstimmung gebettet, umgeben von Schaulustigen, unter denen Jugendliche mehr bierselig als aggressiv »Macht das Tor auf!« brüllten, damals, zur Zeit der steilen Hoffnungen und Runden Tische, der großen Worte und kleinstriezigen Bedenken, zur Stunde der abgesägten Bonzen und schnellen ersten Geschäfte, an einem windstill klaren Dezembertag des Jahres 89, als das Wort »Einheit« mehr und mehr an Kurswert gewann, sagte Fonty plötzlich laut und von Hoftaller nicht zu dämpfen, jenes lange Gedicht mit dem Titel »Einzug« auf, das am
    16. Juni 1871 im Berliner Fremden- und Anzeigenblatt pünktlich zum Anlaß gedruckt gestanden hatte und dessen Reime das siegreiche Ende des Krieges gegen Frankreich sowie die Reichsgründung und die Krönung des preußischen Königs zum Kaiser der Deutschen feierten, indem sie strophenreich alle heimkehrenden Regimenter, die Garde voran, zur Parade führten – »Mit ihnen kommen, geschlossen, gekoppelt, die Säbel in Händen, den Ruhm gedoppelt, die hellblauen Reiter von Mars la Tour, aber an Zahl die Hälfte nur …« – und durchs Brandenburger Tor, dann die Prachtstraße Unter den Linden hoch im Gleichschritt marschieren ließen: »Bunt gewürfelt Preußen, Hessen, Bayern und Baden nicht zu vergessen, Sachsen, Schwaben, Jäger, Schützen, Pickelhauben und Helme und Mützen …«
    Das geschah zum wiederholten Mal, denn nach den preußischen Siegen über Dänemark und Österreich, den ersten Einheitskriegen, war es gleichfalls zur Parade und zu gereimten Einzugsgedichten gekommen, ein Huldigungseifer, den Fonty mit der ersten Strophe den Schaulustigen vor dem gesperrten Tor in Erinnerung gerufen hatte: »Und siehe da, zum dritten Mal ziehen sie ein durch das große Portal; der Kaiser vorauf, die Sonne scheint, alles lacht und alles weint …« So betont er deklamierte, hier, unter freiem Himmel, trug die Stimme des ehemaligen Kulturbundredners Theo Wuttke, den alle Fonty nannten, nicht weit genug. Nur wenige lachten, und niemand weinte vor Freude, auch blieb der Beifall spärlich, als er mit letzter Strophe die Siegesparade vor dem Denkmal des zweiten Friedrich, vorm »FritzenDenkmal«, hatte auslaufen lassen. Gleich nach dem Verhall der Verse lösten sich beide aus der Menge. Fonty schien es eilig zu haben, und Hoftaller sagte ihm hinterdrein: »Sollte das etwa Ihr Beitrag zur kommenden Einheit sein? Zackig und forsch. Hab’s noch im Ohr: ›Die Linden hinauf erdröhnt ihr Schritt, Preußen-Deutschland fühlt ihn mit …‹«
    »Weiß ich, weiß ich! War bloße Lohnarbeit, schlecht bezahlte obendrein …«
»Davon gibt’s mehr, mal stocksteif, mal schnoddrig gereimt.«
»Leider. Aber Besseres gibt’s auch – und das bleibt!«
Inzwischen entfernten sie sich unter winterstarren Bäumen. Ihr Gespräch über den Wert von Gebrauchslyrik verebbte schnell; wir lassen es unkommentiert. Sie machten verschieden lange Schritte den Sonntagspassanten entgegen, die zum Tor wollten. Ihr Ziel hieß Siegessäule, deren krönender Engel als neuvergoldete Scheußlichkeit in der Abendsonne prahlte. Zum Großen Stern zog es sie, mitten durch den Tiergarten, der auf nach links abzweigenden Nebenwegen zur Luisenbrücke, zur Amazone und in Richtung Rousseau-Insel mit Ruhebänken lockte. Aber sie wichen nicht ab. Kaum, daß sie am sowjetischen Ehrenmal den Schritt verlangsamten. Vom Brandenburger Tor aus gesehen, wurden sie kleiner und kleiner. Das verschieden hohe Paar. Schon wieder gestikulierend: der eine mit dem Spazierstock, den er »meinen märkischen
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