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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld
Autoren: Günter Grass
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einander ab. Einige trugen Handschuhe gegen die Kälte. Mit Hammer und Meißel, oft nur mit Pflasterstein und Schraubenzieher zermürbten sie den Schutzwall, dessen Westseite während der letzten Jahre seines Bestehens von anonym gebliebenen Künstlern mit lauten Farben und hart konturierendem Strich zum Kunstwerk veredelt worden war: Das geizte nicht mit Symbolen, spuckte Zitate, schrie, klagte an und war gestern noch aktuell gewesen. Hier und dort sah die Mauer schon löchrig aus und zeigte ihr Inneres vor: Moniereisen, die bald Rost ansetzen würden. Und über weite Flächen gab das kilometerlange, bis kurz vor Schluß verlängerte Wandbild in museumsreifen Fragmenten handtellergroße Placken und in winzigen Bruchstücken wilde Malerei preis: freigesetzte Phantasie und erstarrte Protestchiffren. All das sollte dem Andenken dienen. Abseits vom Gehämmer, im sozusagen zweiten Glied der von Westen her betriebenen Demontage, lief bereits das Geschäft. Auf Tücher oder Zeitungen gebreitet, lagen gewichtige Batzen und winziger Bruch. Einige Händler boten drei bis fünf Fragmente, keins größer als ein Markstück, in Klarsichtbeuteln an. Bestaunt werden konnten mit Geduld abgesprengte größere Details der Mauermalerei, etwa der Kopf eines Ungeheuers mit Stirnauge oder eine siebenfingrige Hand; Exponate, die ihren Preis hatten, und dennoch fanden sich Käufer, zumal ihnen ein datiertes Zertifikat – »Original Berliner Mauer« – mit dem Souvenir ausgehändigt wurde. Fonty, der nichts unkommentiert lassen konnte, rief: »Bruch ist besser als Ganzes!« Weil er nur Ostgeld locker hatte, schenkte ihm ein jugendlicher Händler, dem offenbar genug Gewinn zugeflossen war, drei groschengroße Absprengsel, deren Farbspuren, das eine Schwarz gegen Gelb, das andere Blau neben Rot, das dritte Stück dreierlei Grün, als kostbar zu gelten hatten: »Hier, Opa, nur für Ostkundschaft und weil Sonntag ist.«
    Anfangs wollte sein Tagundnachtschatten dem zwar illegalen, doch beiderseits der Mauer geduldeten Volksvergnügen nicht zusehen, Fonty mußte ihn am Ärmel ziehen. Er zerrte seinen Kumpan regelrecht an laufenden Bildmetern vorbei Nein, das war nichts für Hoftaller. Diese Mauerkunst war nicht nach seinem Geschmack; und doch mußte er ansehen, was ihn schon immer angewidert hatte. »Chaos!« rief er. »Nichts als Chaos!« Als sie an eine Stelle der enggefügten und durch einen Wulst überhöhten Betonplatten kamen, die nach Osten Ausblick bot, weil dem abgrenzenden Bauwerk kürzlich von oben weg eine weit klaffende Lücke geschlagen worden war, blieben sie stehen und schauten durch den offenen Keil, aus dessen gezackten Rändern teils verbogene, teils abgesägte Moniereisen ragten. Sie sahen den Sicherheitsgürtel, die Hundelaufanlage, das weite Schußfeld, sahen über den Todesstreifen hinweg, sahen die Wachtürme. Von drüben gesehen, schaute Fonty ab Brusthöhe durch den erweiterten Spalt. Neben ihm war Hoftaller von den Schultern aufwärts im Bild: zwei Männer mit Hüten. Wäre aus östlichem Bedürfnis nach Sicherheit noch immer ein Grenzsoldat wachsam gewesen, hätte er von beiden ein erkennungsdienstliches Photo schießen können. Längere Zeit schwiegen sie durch den geschlagenen Keil, doch hielt jeder anders laufende Erinnerung zurück. Endlich sagte Hoftaller: »Macht mich traurig, auch wenn wir diesen Abbruch spätestens seit der ›Sputnik‹-Affäre vorausgesagt haben. Wird man eines Tages lesen können, unseren Bericht über den Zerfall staatlicher Ordnung. Wurde nicht zur Kenntnis genommen. Keiner der führenden Genossen war ansprechbar. Kenne das: die übliche Ertaubung während ner Spätphase …« Mehr flüsternd als laut setzte Hoftaller seinen dienstlichen Kummer durch die Mauerlücke frei. Plötzlich kicherte er. Ein lange zurückgehaltenes, nun bis zum Überfluß gespeichertes Kichern schüttelte ihn. Und Fonty, der sein Ohr dem Flüsternden zuneigen mußte, hörte: »Eigentlich komisch. Typischer Fall von Machtermüdung. Nichts greift mehr. Aber wissen möchte man schon, wer den Riegel aufgesperrt hat. Na, wer hat dem Genossen Schabowski den Spickzettel untergeschoben? Wer hat ihm erlaubt, ne Durchsage zu machen? Satz auf Satz rausposaunt … ›Ab heute ist …‹ Na, Fonty, wem wird das Sprüchlein ›Sesam, öffne dich‹ eingefallen sein? Wem schon? Kein Wunder, daß der Westen wie vom Schlag gerührt war, als ab 9. November Zehntausende, was sag ich, Hunderttausende rüberkamen, zu Fuß und mit
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