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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld
Autoren: Günter Grass
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mit Poststempel vom 12. September eintraf, die als Motiv die Totenmaske Heinrichs des Vierten vorwies und offensichtlich im Hugenottenmuseum gekauft worden war, wurde uns ziemlich direkt die Richtung gewiesen, weil Fonty, diesmal mit Blei, von allen Ausstellungsstücken nur »zwei besonders hübsche Kacheln aus den Cevennen« erwähnte. Überdies fand sich der vieldeutige Satz: »Zweifelsohne werde ich mir selbst nun zum jüngsten Kind meiner Laune.« Dann kam lange nichts. Den Außendienst hatten wir aufgegeben. Um letzte Ungewißheiten zu beschwichtigen, schrieb der Leiter des Archivs an Frau Professor Jolles. Aus London kam umgehend Antwort: »Bedauerlicherweise hat sich der vermißte Herr nicht gemeldet. Vielleicht wird es Ihren Freund, der mir durch einigen Briefwechsel vertraut ist, direkt nach Schottland ins Hochmoor gezogen haben. Dort gibt es noch immer einsame Flecken, sogar Heide und Hexentreff, wenngleich der moderne Tourismus nichts ausläßt …« Wochen vergingen. Wir begannen, uns daran zu gewöhnen, ohne leibhaftige Hilfe unser Kleinklein betreiben zu müssen. Nein, wir gewöhnten uns nicht, vielmehr waren wir sicher, ins Bodenlose gefallen zu sein, weil uns mit Fonty der Unsterbliche verlassen hatte. Alle Papiere wie tot. Keinem Gedanken wollten Flügel wachsen. Nur Fußnoten noch und Ödnis unbelebt. Leere, wohin man griff, allenfalls sekundäres Geräusch. Es war, als sei uns jeglicher Sinn abhanden gekommen. Fonty, der gute Geist, fehlte. Und nur, indem wir Blatt auf Blatt füllten, ihn allein oder samt Schatten beschworen, bis er wiederum zu Umrissen kam, wurde er kenntlich, besuchte er uns mit Blumen und Zitaten, war er, ganz gestrig, der von Liebermanns Hand gezeichnete Greis, nah gerückt, doch mit Fernblick schon, um uns abermals zu entschwinden … Dazu kamen finanzielle Sorgen, die damals das Archiv bedrückten. Wie überall, so mußte bei uns mit weniger Personal mehr geleistet werden. Mir wurde nur noch eine Halbtagsstelle zugestanden. Schon bewarb ich mich vergeblich in Marbach und anderswo, schon sah es so aus, als bliebe mir allenfalls übrig, mich spät ins sogenannte Eheglück zu flüchten – ach ja: »Ehe ist Ordnung!« –, da traf gegen Mitte Oktober – die Kastanien fielen – eine, wie wir nun wissen, letzte Postkarte ein. Sie sagte alles, indem sie auf der blanken Ansichtsseite eine gehügelte, vorn grüne, zum Horizont hin immer blaustichiger werdende Landschaft bot, der die Rückseite mit unleserlichem Poststempel auf dem Wertzeichen – eine karminrote Marianne! und ein paar Worten entsprach, diesmal in Tintenschrift. Wir lasen: »Mit ein wenig Glück erleben wir uns in kolossal menschenleerer Gegend. La petite trägt mir auf, das Archiv zu grüßen, ein Wunsch, dem ich gerne nachkomme. Wir gehen oft in die Pilze. Bei stabilem Wetter ist Weitsicht möglich. Übrigens täuschte sich Briest; ich jedenfalls sehe dem Feld ein Ende ab …«

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