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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld
Autoren: Günter Grass
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Archiv ohne Lücke!« Das war alles oder beinahe alles. Als sie vorm Riesenrad wieder zu dritt standen, wurde beschlossen, ein Erfrischungsgetränk zu bestellen. Unter Bäumen habe man an einem Stehtisch Faßbrause getrunken. Und dort erst soll Madeleine zwischen Schluck und Schluck angedeutet haben, daß es nach der so plötzlich endenden Veranstaltung im Kesselhaus leichtgefallen sei, ein zwar enges, aber akzeptables Quartier zu finden. Nach Hoftallers Bericht hat sie gesagt: »Wir haben Glück gehabt. Das Kämmerlein wurde uns von einer einfachen Hausfrau angeboten, deren Mann arbeitslos ist und die sich von Großpapas Vortrag begeistert zeigte. So haben wir Unterschlupf gefunden. Richtig gemütlich mit Ausblick durch ein Dachlukenfenster. Sie dürfen unbesorgt sein, Monsieur Offtaler. Nur die vielen Topfpflanzen stören ein wenig, mehr mich als Großpapa, der sogar einen Heliotrop, seine Lieblingsblume, in unsrem jardin des plantes entdeckt hat. Nun, das wird auszuhalten sein, der sehr strenge Geruch, meine ich. Wir sind ja viel unterwegs und werden gewiß nicht lange dort wellen …« Der Abschied fand gegenüber einer MinolTankstelle statt, von der aus sich Hoftaller ein Taxi bestellte. Fonty und Madeleine sind über die Puschkinallee in Richtung S-Bahn gelaufen, als schon die ersten Tropfen fielen und Wind aufkam. Doch mit dem Satz »So trennten wir uns« waren wir nicht zufrieden. Wie man denn auseinandergegangen sei, wollten wir wissen: »Einfach so, sang- und klanglos?«
    »Jeder ging in andere Richtung.«
»Ohne besonderes Wort?«
»Gab ja nichts mehr zu sagen.«
    »Aber es muß doch irgendwas, eine Abschiedsgeste gegeben haben?«
    »Das schon …«
Wir wollten nicht glauben, was uns Hoftaller, der gleich darauf das Archiv verließ, ein wenig verlegen als Bild
    überliefert hat: »Stellen Sie sich vor: Zum Schluß hat mich Fonty umarmt.«
    So verflüchtigte sich ein Tagundnachtschatten, der auch auf uns gefallen war. Er blieb weg, aber das Rätseln hielt an: Welche Richtung nimmt er? Was hat den Spezialisten für Systemwechsel von uns abziehen können? So viele Möglichkeiten, operativ zu werden, denn wohin man mit Hilfe des Fernsehens blickte, überall klafften Sicherheitslücken, stand irgendwas auf der Kippe, war sofortiger Zugriff gefragt. Nach üblichem Hin und Her haben wir uns auf Kuba geeinigt, nicht nur, weil sein Zigarrenvorrat erschöpft war. Aber noch lange hielt sich die Frage: Auf weicher Seite wird er wohl tätig werden, in Havanna oder von Miami aus? Zugegeben sei schließlich, daß er im Weggehen dem Archiv ein Kuvert hinterlassen hat. Wir fanden einige Dokumente aus der Leipziger Zeit – Dr. Neuberts Apotheke »Zum Weißen Hirsch« in der Hainstraße betreffend – und zwei frühe Briefe des Unsterblichen an Wolfsohn. Solche Glücksmomente sind selten geworden. Nichts Sensationelles, aber aufschlußreich ist jene Briefpassage, in der er sich vehement von Herwegh löst, um abermals bei Lenau anzuknüpfen; jedenfalls war diese Abschiedsgabe eine Bereicherung der Archivbestände.
    Von Fonty hörten wir nichts, abgesehen von einer Postkarte mit Grüßen aus dem Spreepark. Abgebildet war das Riesenrad und bemerkenswert ein mit dem Filzstift gekritzeltes Selbstzitat: »Nichts tyrannischer als alte Leute!« Dazu, in Klammern gesetzt: »Habe Madeleine gewarnt, denn mir ist, als bereitete ich mich darauf vor.«
    Und ihre Schulmädchenschrift: »Großpapa übertreibt schon wieder. Vielleicht sind fünfmal Achterbahn selbst für ihn zuviel gewesen. Wir haben es lustig.«
    Immerhin konnten wir Hoftallers Spreeparkbericht als gesichert ansehen. Nach einigen Tagen erst, die uns lähmend langsam vergingen, kam eine weitere Postkarte, diesmal vom Fernsehturm auf dem Alexanderplatz. Wir lasen, daß Großvater und Enkeltochter im Turmrestaurant, das sich in zweihundertsieben Meter Höhe immerfort dreht, »bei toller Aussicht sehr preiswert Kohlrouladen gegessen« hatten.
    Und was man alles von hoch oben hat sehen können: »Das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, den Französischen Dom, die Staatsoper, den Friedrichstadtpalast, die Charité, am Wasser gelegen das Bode-Museum und dann noch, in Richtung Prenzlauer Berg, die Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz. Nach Westen hin war es ziemlich dunstig, aber der Reichstag, das Tor und der Tiergarten waren zu erahnen, sehr minuscule die Siegessäule. Einfach phantastisch!« schrieb Madeleine. Vom Großvater nur Grüße. Als tags drauf eine weitere Ansichtskarte
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