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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld
Autoren: Günter Grass
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ihren Trabis. Waren richtig perplex … haben Wahnsinn geschrien … Wahnsinn! Aber so ist das, wenn man jahrelang jammert: ›Die Mauer muß weg …‹ Na, Wuttke, wer hat ›Bitteschön, schluckt uns‹ gesagt? Fällt der Groschen?« Fonty, der bisher bei schräger Kopfhaltung geschwiegen hatte, wollte nicht rätseln. Eher beiläufig spielte er eine Gegenfrage aus: »Wo steckten eigentlich Sie, als damals hier alles dichtgemacht wurde, querdurch?« Vor dem in Brust- und Schulterhöhe klaffenden Spalt standen sie immer noch wie gerahmt: ein Doppelportrait. Weil sich beide gern dem Ritual eingeübter Befragungen unterwarfen, nehmen wir an, daß Fonty vorauswußte, was Hoftaller zur Litanei reihte: »Infolge der Konterrevolution … Als nur noch mit Hilfe der Sowjetmacht … Kam zu Säuberungen bald danach …« Er zählte unterlassene Sicherheitsmaßnahmen auf und sprach von Enttäuschungen. Noch immer bedauerte er Systemlücken. Untilgbar hing ihm der 17. Juni an: »Wurde strafversetzt. Saß im Staatsarchiv rum. Rutschte in ne depressive Stimmungslage. Habe deshalb den Arbeiter- und Bauern-Staat verlassen müssen. War aber keine prinzipielle Sinnkrise. Nein, Tallhover hat nicht Schluß gemacht, hat nur die Seite gewechselt., war drüben gefragt. Das hat mein Biograph leider nicht glauben wollen, hat die im Westen gängige Freiheit fehleingeschätzt, hat mich ohne Ausweg gesehen, mir ne Todessehnsucht angedichtet. als könnte unsereins Schluß machen. Für uns. Fonty, gibt’s kein Ende!« Hoftaller sprach nicht mehr im Flüsterton. Nun nicht mehr vor die klaffende und zum Bekenntnis zwingende Plattenkonstruktion gestellt, sondern wieder im Tippelschritt und am endlosen Mauerbild vorbei, gab er sich gutgelaunt: »Jetzt kann man ja offen reden: Wurde mit Kußhand genommen. Versteht sich: mein Spezialwissen! Lief drüben unter gewendetem Namen. Wurde als ›Revolat‹ geführt. Bekam mir gut, der Klimawechsel. Doch auch die andere Seite knauserte nicht mit Enttäuschungen. Meine Warnungen vor drohender Abriegelung sind für die Katz gewesen. Habe in Köln mit abgelichteten Lieferscheinen alle im Westen getätigten Großeinkäufe belegt; was man so brauchte für den Friedenswall: Zement, Moniereisen, ne Menge Stacheldraht. Gab schließlich Pullach nen warnenden Tip. Half nichts. Endlich, als es zu spät war, merkte der Agent Revolat, daß auch der Westen die Mauer wollte. War ja alles einfacher danach. Für beide Seiten. Sogar die Amis waren dafür. Mehr Sicherheit war kaum zu kriegen. Und nun dieser Abbruch!«
    »Nichts steht für immer« hieß Fontys Trost. Im schräg einfallenden Nachmittagslicht schritten und tippelten sie Richtung Tor. Die schon tief stehende Sonne machte, daß sie auf das Mauerbild einen gepaarten Schatten warfen, der ihnen folgte und ihre Gesten nachäffte, sobald sie mit Händen aus weiten Mantelärmeln redeten und die neuerliche Sicherheitslücke entweder als Risiko einschätzten – »Wird man sich noch zurückwünschen eines Tages« – oder als »kolossalen Gewinn« feierten: »Ohne ist besser als mit!«
    Einige Mauerspechte betrieben ihr Handwerk verbissen, wie gegen Stücklohn, ein Herr fortgeschrittenen Alters sogar mit einem batteriegespeisten Elektrobohrer. Er trug eine Schutzbrille und Ohrenklappen. Kinder sahen ihm zu. Viel Volk war unterwegs, auch türkisches. Junge Paare ließen sich vor Hintergrund photographieren, damit sie sich später, viel später würden erinnern können. Hier trafen lange getrennte Familien einander. Von fern Angereiste staunten. Japaner in Gruppen. Ein Bayer in Tracht. Heitere, aber nicht laute Stimmung. Und über allem lag dieses dem Specht nachgesagte Geräusch. Zwei berittene Westpolizisten kamen ihnen entgegen und schauten über die Sonntagsarbeit hinweg. Hoftaller gab sich einen dienstlichen Ruck, doch auf die Frage nach der Zulässigkeit des destruktiven Vorgangs sagte der eine Wachtmeister: »Zulässig isset nich, aber verboten noch wenjer.« Zum Trost schenkte Fonty seinem Tagundnachtschatten die drei groschengroßen Mauerbröcklein. Und während er noch die einseitig bunten Fragmente wie Beweisstücke im Portemonnaie sicherte, sagte Hoftaller: »Jedenfalls war ab August einundsechzig wieder was fällig. Meine alte Dienststelle klopfte an. Ließ mich nicht lange bitten. Aber das wissen Sie ja, daß ich schon immer gesamtdeutsch …« Ihr Ritual gab nichts mehr her. Schweigend liefen sie die Mauer ab. Nur als Dampf verwehte ihr Atem. Schritt nach
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