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Stone Girl

Stone Girl

Titel: Stone Girl
Autoren: Alyssa B. Sheinmel
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    Es ist September in New York City und Sarah Beth Weiss ist gerade siebzehn geworden. Seit sie denken kann, nennt alle Welt sie Sethie. Ihre Eltern, ihre Großeltern, ja sogar ihre Cousinen und Onkel, die sie sonst kaum kennen, wissen, dass es Sethie heißen muss. Nur die neuen Lehrer kriegen es nicht hin. Wenn sie in der Schule nacheinander die Namen der Schüler aufrufen, muss Sethie sie immer unterbrechen, um es ihnen zu erklären. Gerade heute ist es wieder passiert, am ersten Tag ihres Senior-Jahres. Eigentlich dachte sie, inzwischen würden alle Lehrer der kleinen Schule ihren richtigen Namen kennen. Doch heute haben sie einen neuen Mathelehrer bekommen. Es war nicht seine Schuld, das weiß Sethie, aber sie war trotzdem wütend auf ihn. Sie war enttäuscht, dass sie ihm ihren Namen erklären musste. Danach hat sie sich für ihre Wut geschämt.
    Sethie rennt. Sie geht auf eine reine Mädchenschule, die Franklin White School oder White School oder einfach nur White. Ein Name, dessen Ironie – oder das komplette Fehlen derselben – keiner der ausschließlich weißen, der Mittelschicht entstammenden Schülerinnen entgeht. Die Schule ist für heute aus, und das Einzige, woran Sethie denken kann, ist der Junge. Shaw. Auch in den Sommerferien hat sie oft lange warten müssen, um ihn endlich zu sehen, aber nicht jeden Tag bis Viertel nach drei, und jetzt weiß sie schon gar nicht mehr, wie sie das vorher ausgehalten hat. Dabei kann sie sich noch daran erinnern, dass sie manchmal sogar länger ausgeharrt hat, letztes Schuljahr zum Beispiel, als sie zu den Redaktionssitzungen für das Jahrbuch musste, die oft bis nach fünf gedauert haben, oder zu ihren Tutorenterminen im Café, wo sie für die Abschlussprüfung gelernt hat.
    Shaw, Shaw, Shaw, singt sie sich selbst vor, während sie immer weiter rennt, wie ein Pferd, das man mit einer aufgespießten Möhre ködert – muss die Möhre erwischen, muss schneller laufen, muss zu Shaw.
    Zwei Dinge gibt es über Sethie zu sagen, die ganz sicher stimmen: Erstens, dass sie immer Hunger hat, einen gemeinen, wütenden Hunger, der sich wie eine Glasscherbe im Bauch anfühlt, und zweitens, dass sie Shaw ununterbrochen vermisst.
    Wenn Shaw ihren Namen sagt, fühlt Sethie ihn auf ihrer Haut. Er klingt gewichtig aus seinem Mund, mit dieser Stimme. Einer Stimme wie aus einer anderen Welt, einem Opernhaus, einem Film, einem Radio. Eine Stimme, die es verdient hätte, überall anders zu sein als in ihrem Zimmer, wo sie tatsächlich zu ihr spricht, sie beim Namen nennt, ihr Beachtung schenkt. Ihrem Namen eine Bedeutung verleiht, die er vorher nie hatte.
    Shaw, Shaw, Shaw. Es ist, als würde sein Name niemals enden, als würde ein Buchstabe am Ende fehlen. Sie weiß, dass er sie unmöglich den ganzen Tag über so vermisst haben kann, wie sie ihn vermisst hat. Shaw würde sich nie damit aufhalten, jemanden zu vermissen. Shaw glaubt nicht, dass das eigene Glück von jemand anderem abhängt. Shaws Freunde waren fast den ganzen Sommer lang nicht da. Wahrscheinlich hat er seinen ersten Schultag sogar genossen, sich gefreut, die anderen wiederzusehen, neue Bücher zu bekommen und frisch gespitzte Bleistiftminen auf lose Blätter zu drücken.
    Sethie weiß, dass Shaws Bleistifte frisch gespitzt sind, weil sie seine Schultasche am Vorabend ausgemistet hat. Shaw stand gerade unter der Dusche, als sie all seine runtergekauten, abgenutzten Stifte weggeworfen und durch ihre eigenen, neuen ersetzt hat. Als Überraschung für seinen ersten Schultag.
    Sethie hat sich den ganzen Tag lang abgehetzt, ist von Kurs zu Kurs gerannt, die Treppen rauf und runter, hat auf die Uhr geguckt und sich gewünscht, die letzte Unterrichtsstunde möge endlich anbrechen. Die anderen Mädchen haben sich Zeit gelassen, sich gegenseitig von ihren Erlebnissen erzählt, über diesen und jenen Lehrer gelästert und sich über ihre College-Bewerbungen den Kopf zerbrochen. Sethie hingegen ist zu jeder Schulstunde zu früh gekommen. Sie hat die erste Seite ihres Hefts aufgeschlagen und ihren Kugelschreiber am Seitenanfang aufgesetzt, bereit weiterzumachen. Ihre Mitschülerinnen haben im Gemeinschaftsraum der Seniors gesessen. Sie haben schon seit Jahren auf diesen Raum gewartet, auf seine Türen, mit denen man die Lehrer ausschließen kann. Er ist winzig, lang gezogen und schmal. In jeder anderen Schule, denkt Sethie, wäre er wahrscheinlich zu klein, um eine ganze Senior-Klasse darin unterzubringen. Doch an Sethies Schule sind
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