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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag
Autoren: Allison Winn Scotch
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Galerie vernachlässigt, um sich um mich zu kümmern. Ich habe zwar nicht das Gefühl, dass mein altes Ich jemand war, um den man sich hätte kümmern müssen, aber Rory macht es trotzdem gut.
    «Es gibt gute Neuigkeiten», beginnt Dr. Stark. «Wir sind die Aufnahmen der Computertomographie sowie aus dem Kernspin durchgegangen und haben beide zur Sicherheit zusätzlich an die besten Spezialisten der University of California geschickt. So, wie es aussieht, hat Ihr Gehirn keinerlei bleibende Schäden davongetragen.»
    «Und weshalb kann ich mich dann an nichts erinnern?»
    «Das könnte eine ganze Reihe von Gründen haben.» Er räuspert sich. «Es könnte psychosomatisch sein …»
    «Moment. Sie glauben, ich mache das mit Absicht?», stammle ich. In den endlosen Stunden, die ich hier rumgelegen habe, sind mir ja alle möglichen Ursachen durch den Kopf gegangen, aber sicher keine absichtliche Amnesie!
    «Nein, nein, so ist das nicht gemeint. Man kann in diesem Fall natürlich nicht von Absicht sprechen. Das wäre der falsche Begriff. Aber bei manchen Menschen, die ein extrem traumatisches Ereignis durchmachen, fährt quasi das Gehirn runter. Man nennt das dissoziative Amnesie – als Reaktion auf den Stress des durchlebten Ereignisses blendet das Gehirn dieses Ereignis aus. Nur dass Ihr Gehirn dabei gewissermaßen übertrieben hat – es hat zu viel ausgeblendet. Bei dissoziativer Amnesie ist man durchaus in der Lage, sich an alle allgemeingültigen Regeln, die das Leben betreffen, zu erinnern – Sie wissen zum Beispiel noch gewisse historische Ereignisse der Weltgeschichte oder was die Freiheitsstatue ist oder» – er zeigt auf den Fernseher – «wie eine Fernbedienung funktioniert und dass man nach Benutzung der Toilette die Spülung betätigt. Aber Sie können sich nicht mehr an Ihr eigenes Leben erinnern.» Er geht spürbar in Deckung, wartet darauf, dass ich die Informationen verarbeite und protestiere: Aber das ist doch vollkommen lächerlich! Ich bin doch keine durchgeknallte Irre! Doch ich reagiere nicht. Sage nichts dergleichen. Denn wer weiß das schon? Wer zum Teufel weiß das schon? Vielleicht stimmt es ja. Ein schneller Seitenblick auf das Titelbild der Zeitschrift bestätigt mir, dass ich keine Ahnung habe, wer ich wirklich bin, und dass meine Vorstellung von dem, wie ich gerne gewesen wäre, nicht mit dem Bild übereinstimmt, das ich inzwischen von meinem alten Ich habe.
    Als er merkt, dass seine Befürchtung unbegründet war, fährt er fort: «Wie gesagt, wir tasten uns hier lediglich an verschiedene Möglichkeiten heran. Amnesie – in all ihren Formen – ist ziemlich selten. Ich bin der Meinung, dass eine gewisse Beschädigung auf jeden Fall vorliegt und Ihr Gedächtnis mit der Zeit und mit entsprechendem Training zurückkehren müsste. Wenn vielleicht auch stückchenweise.»
    «Verstehe ich das richtig? Entweder ich leide unter einem tatsächlichen Hirnschaden, oder aber mein Hirn hat sich selbst beschädigt?», frage ich schließlich.
    «Von was für einer Zeitspanne sprechen wir hier?», mischt Rory sich ein, und Dr. Stark entscheidet sich, die weniger heikle Frage zu beantworten.
    «Schwer zu sagen. Schon morgen oder erst in Monaten, alles ist möglich. Ihr Therapeut», sagt er an mich gewandt, «wird nachher hereinschauen und Ihnen erklären, wie Sie Ihr Gehirn dabei unterstützen können, Ihr Gedächtnis wiederzuerlangen. Sie müssen sich Ihr Gedächtnis wie einen Muskel vorstellen. Es bedarf regelmäßigen Trainings, um seine Kraft zurückzugewinnen.»
    Dr. Stark wird über die Lautsprecheranlage ins Schwesternzimmer gerufen, und er verschwindet mit einem Nicken und dem Versprechen, noch einmal vorbeizusehen, ehe er in den OP muss.
    «Das klingt alles so grotesk», wende ich mich an Rory und massiere mir mit dem gesunden Arm den Nacken. «Als würde sich jemand den schlimmsten Scherz der Welt mit mir erlauben.» Ich lasse den Arm sinken und strecke ihr die Handfläche entgegen. Ich hatte die Narbe vorhin erst entdeckt. Sie zieht sich deutlich von der Lebenslinie bis zum Handgelenk hinunter.
    «Wie ist die da hingekommen?»
    «Ein Unfall als Kind – ein zerbrochener Teller», erklärt Rory, ohne näher darauf einzugehen, und macht es sich auf dem Stuhl neben dem Bett bequem. Sie kramt in ihrer Tasche und holt eine kleine Schachtel Doughnuts und zwei Flaschen Snapple heraus. Die Flaschen stoßen klirrend aneinander. Die Melodie von Eistee.
    «Ich weiß, dass es ungesund ist», sagt sie.
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