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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag
Autoren: Allison Winn Scotch
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abgestürzt. Können Sie mir sagen, woran Sie sich erinnern?»
    Mein Blick kreist, und ich nage an der Unterlippe, während ich mein Gedächtnis durchforste. Woran erinnere ich mich? Ein Flugzeug? Bin ich in ein Flugzeug gestiegen? Nein, nein. Das war nicht ich. Ich glaube nicht, dass ich ein Flugzeug bestiegen habe. Ein Absturz? Wieso sollte ich mich nicht an einen Absturz erinnern? Nein, unmöglich, dass mir das passiert sein soll.
    «An nichts», bringe ich flüsternd heraus. Die Luft brennt in meiner Kehle. «Ich erinnere mich an keinen Flugzeugabsturz.»
    Die ältere Frau mit der Champignonfrisur hält mir einen Becher mit Trinkhalm hin und nickt mir zu. Ich schlinge meine Zunge um den Trinkhalm, bekomme ihn mit den Zähnen zu fassen und sauge. Ja! Wie Manna in der Wüste. Das Wasser bahnt sich einen Weg in mein Inneres – ich fühle, wie die kühle Flüssigkeit durch meine Kehle fließt und die dürre Steppe in meinem Bauch wässert.
    «In Ordnung. Das ist ganz normal», sagt Dr. Stark an den großen Mann und die Frau gewandt. «Das haben wir nicht anders erwartet. Sie dürfen nicht vergessen, dass sich das alles vollkommen im Rahmen bewegt.» Dann fragt er mich: «Woran können Sie sich denn erinnern? Lassen Sie uns einfach damit beginnen. Können Sie mir sagen, an welche Einzelheiten aus Ihrem Leben Sie sich erinnern?»
    Ich schüttle den Kopf, soweit es die Halskrause zulässt.
    Dr. Stark schiebt den Mann näher an mein Bett heran. Der Fremde lässt die Finger durch meine Haare gleiten und fängt an zu weinen. Stumm und heftig.
    «Ist gut, Peter», sagt die Frau. «Es wird alles wieder gut.»
    Er nickt, dann entfährt ihm ein seltsames Heulen – es klingt wie ein Delfinruf –, wahrscheinlich versucht er, sich zusammenzureißen. Die Tränen versiegen, doch seine tiefliegenden Augen sind rot umrandet. Sie verraten mir, dass er eigentlich nicht mehr weiß, was Zusammenreißen überhaupt bedeutet.
    Dr. Stark zeigt auf den Mann namens Peter. «Wissen Sie, wer das ist?»
    Ich kneife die Augen zusammen, betrachte den Mann und versuche, mich zu erinnern. Ich starre die Muskeln an, die sich unter dem T-Shirt abzeichnen, mustere die widerspenstigen braunen Haare, die unter der Kappe hervorlugen, die Venen auf der Innenseite seiner Arme, die sich bis zu den Handflächen hinunterziehen. Er sieht auf eigenwillige Weise gut aus und weckt unbestimmte Erinnerungen in mir. Aber ich kann die Signale nicht deuten. Weder weiß ich, wer er ist, noch, warum er für mich wichtig sein sollte.
    Eine Schwester reicht Dr. Stark einen Handspiegel, und er hält ihn mir vors Gesicht. Ich sehe, wie meine Augen sich fragend weiten. Das bin ich? Das bin ich! Ich habe keine Erwartung an mein Aussehen, keinen Plan, wo die Sommersprossen zu sitzen haben oder wie der Schwung der Lippen verlaufen sollte. Das Spiegelbild zeigt mir, dass sich eine tiefviolette Strieme von der linken Schläfe bis unter das Auge zieht. Die Oberlippe ist von einer tiefen Schnittwunde durchzogen. Instinktiv taste ich mit der Zunge danach. Die fettigen Haare werden von einem Scheitel geteilt, der den bleichen, wachsigen Teint der Wangen betont, und bei den Strähnchen kann von natürlichem Blond keine Rede sein.
    «Hilft Ihnen das?», möchte Dr. Stark wissen.
    Wobei denn helfen? , will ich fragen, aber ich starre nur weiter in den Spiegel, so lange, bis alles verschwimmt. Ich versuche, eine Verbindung zu der Frau im Spiegel herzustellen, doch das Gesicht, das ich angeblich schon mein Leben lang mit mir herumtrage, würde ich heute bei einer Gegenüberstellung nicht wiedererkennen. Krampfhaft versuche ich, mich zu erinnern, als sich das Piepen – dieses nervtötende Geräusch – wieder in meine Ohren bohrt. Diesmal noch lauter, fast verzweifelt.
    Pieppieppieppieppieppiiiiiep!
    Erinnere dich! Verdammt noch mal! Erinnere dich!
    Mir wird schwindlig. Ich spüre, dass ich ohnmächtig werde, das Blut pocht in meinen Schläfen, hinter den Augen, nimmt mir den Atem, pulsiert in meiner Brust. Und plötzlich durchfährt mich ein Kopfschmerz, der sich fast ein bisschen nach Sterben anfühlt.
    Der Mann namens Peter umfasst mit seinen riesigen Pranken mein Gesicht, zwingt mich, wach zu bleiben, mich zu konzentrieren.
    «Nein», antworte ich mit dem letzten Fünkchen Kraft, das mir geblieben ist. «Tut mir leid. Nein. Ich erinnere mich nicht.»
    «Ich bin dein Mann», höre ich ihn sagen, aber es klingt wie ein Echo, ein fernes Echo von ganz, ganz weit weg. Ein Echo, das
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