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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag
Autoren: Allison Winn Scotch
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Fuß ausstrecken, der gar nicht mehr mit mir verbunden ist? Wie kann ich mir die Fingernägel in die Handfläche graben, wenn mein Gehirn keinen Empfänger für seinen Befehl finden kann?
    Am besten gelingt es mir, bei Jamie Reardon abzuschalten – dem Reporter der Lokalnachrichten, der für den einzigen überregionalen Kabelsender, den man hier im Krankenhaus empfangen kann, über die Geschichte berichtet. Er erinnert mich an jemanden, auch wenn ich nicht weiß, an wen. Doch allein das Gefühl tröstet mich. Es kommt mir vor, als wäre er ein echter Vertrauter, eine verflossene Highschool-Liebe, ein Bruder. Er wirkt standhaft und verlässlich, und obwohl er nur eine Projektion auf dem Bildschirm ist, fühlt es sich an, als wären wir Freunde.
    Manchmal kommt Anderson vorbei, und wir – zwei Fremde und gleichzeitig auch nicht – sitzen stumm zusammen und sehen Jamie dabei zu, wie er die Welt mit den neuesten Erkenntnissen über den Unfall versorgt und von unseren Fortschritten berichtet. Wir unterhalten uns darüber, wie dankbar wir dafür sind, ohne dabei die dunkleren Aspekte zu berühren – die Schuldgefühle, die Familien all der anderen, die nicht überlebt haben, die ungeheuerliche Tragweite der Frage: Warum wir? Im Augenblick genügt uns, am Leben zu sein. Und wenn es nicht genügt, ist Jamie Reardon da und füllt die Leerstellen, über die nachzudenken viel zu schwierig wäre, selbst wenn wir es zulassen würden.

    Am fünften Tag, den ich wieder unter den Lebenden weile, betreten Dr. Stark und Peter gemeinsam das Zimmer. Peter greift automatisch nach der Fernbedienung und schaltet den Ton ab.
    «Nell, wir müssen Ihnen etwas mitteilen», ergreift Dr. Stark das Wort. Peter steht leicht geduckt hinter ihm. Er sieht aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Ohne die Baseballkappe wirkt er fünfzehn Jahre älter – seine Augenringe sehen fast aus wie blaue Flecken, und sein Teint ist leichenblass.
    «Mir ist klar, dass Sie sich nicht daran erinnern können.» Nach kurzem Zögern fährt Dr. Stark mit professioneller Arztstimme fort. «Aber es ist sehr wichtig für Sie zu wissen, dass Sie schwanger waren.»
    Meine Augenlider fangen an zu flattern.
    «Unglücklicherweise besteht diese Schwangerschaft aufgrund der Umstände nun nicht mehr.» Er zögert aufs Neue. «Um genau zu sein, haben Sie unmittelbar bei der Einlieferung eine Fehlgeburt erlitten. Wir wollten mit der Nachricht warten, bis Sie stabil genug dafür sind.»
    Hinter ihm fängt Peter an zu weinen, und ich wünschte, ich könnte es auch. Ich wünschte, ich wäre in der Lage, diesen Verlust so greifbar zu spüren wie er. Irgendwo in meiner Kehle formt sich vage eine Emotion, doch als ich schlucke, ist sie auch schon wieder verschwunden.
    «Wie weit war ich?»
    «Noch relativ am Anfang – wie es aussieht, im ersten Drittel, vielleicht in der achten Woche. Wir sind in Kontakt mit Ihrer Krankenversicherung, um Ihre New Yorker Gynäkologin zu befragen und vielleicht ein paar weitere Informationen zu bekommen.» Er wirft Peter einen Blick zu. «Ich lasse Sie beide allein, um das zu verdauen.»
    Er schließt die Tür und lässt Peter und mich allein in einem Vakuum aus Stille zurück, in dem nichts existiert außer Peters erfolglosen Versuchen, seine Gefühle zu kontrollieren.
    «Es tut mir leid», sage ich. «Ich weiß, dass die ganze Sache sehr hart für dich sein muss. Haben wir es lange probiert?»
    «Nein», murmelt er leise. «Es war eine Überraschung.»
    Ich nicke und sehe zum Fenster hinaus. Für mich ist alles eine Überraschung.
    «Ich weiß, es hört sich seltsam an, und es soll auf keinen Fall unhöflich klingen, aber irgendwie fühlt es sich komisch an, mit dir darüber zu sprechen», setze ich wieder an. «Das soll jetzt nicht heißen, dass ich bezweifle, dass wir ein tolles Leben miteinander führten, aber … weißt du … ich erinnere mich nicht; weder daran, wo wir gewohnt haben, noch daran, dass wir Sex hatten oder versucht hätten, ein Kind zu kriegen. An gar nichts.»
    Er macht ein Gesicht, als hätte er in seinem Wasserglas versehentlich Wodka gehabt.
    «Ich sag dir was», antwortet er, sobald er sich wieder im Griff hat – ich sehe ihm dabei zu, wie er fast gewaltsam versucht, sich zu beherrschen, damit er hier in meinem Krankenzimmer nicht völlig zusammenbricht. Er beugt sich zu mir herunter und küsst mich auf die Stirn. Ich atme tief ein, um vielleicht einen vertrauten Geruch zu erkennen. «Ruh dich aus. Und wenn
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