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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag
Autoren: Allison Winn Scotch
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lange nicht behandelt wurde und deren Wangen dringend etwas Rouge bedürften. Ich kenne sie nur von Fotos: wie sie auf meiner Hochzeit neben mir steht und wie wir beide, unsere Verbindungs-T-Shirts tragend und nach zwei Shots wer weiß was zu viel, dämlich in die Kamera grinsen, als läge uns die Welt zu Füßen. Unbesiegbar. So sahen wir aus. Unerreichbar. Sie sitzt neben mir und versucht nicht zu weinen, doch genau wie alle anderen – wie Peter, wie meine Mutter – droht sie an dieser Herausforderung zu scheitern. So schnieft und schluckt sie selbst stetig bei dem Versuch, mir eine Schulter zum Anlehnen zu sein.
    Nach Samantha kommt meine jüngere Schwester Rory herein. Eindeutig entstammt sie einem völlig anderen Genpool als ich – leuchtend rote Haare, stolze fünfzehn Zentimeter größer und Augen wie grünes, sattes Moos. Sie ist so hübsch, dass mir fast die Augen aus dem Kopf fallen. Sie besitzt diese ganz besondere, makellose DNA-Mischung, die nur sehr selten zustande kommt, um etwas Auserlesenes zu kreieren. Mit einem gezwungenen Lächeln erklärt sie mir, dass wir die Kunstgalerie gemeinsam betreiben. Ich lächle zurück, strahlend und aufrichtig, weil mir die Vorstellung gefällt, wie wir beide, fabelhaft und glamourös, der Welt die Stirn bieten, die schwindelerregenden Höhen von New York City erklimmen: wir, wir zwei Schwestern. Im Moment zwar Fremde, aber einst Schwestern. Ich schwelge in dieser Vorstellung, auch wenn ich sie eigentlich gar nicht kenne. Früher kannte ich sie. Vorher, damals, als ich noch ein Leben hatte. Die Vorstellung, dass wir ein gemeinsames Leben hatten, fühlt sich tröstlich an.
    «Es ist meine Schuld, dass du geflogen bist», sagt sie und holt mich in die Gegenwart zurück. Ihre Gesichtsmuskulatur zittert, als wäre sie zu erschöpft, um ordentlich zu funktionieren. Ich sehe ihr die Anstrengung an, sich unter Kontrolle zu halten und die unausweichliche Tränenflut einzudämmen. Schuldgefühle trüben die perfekten grünen Augen und legen einen Schatten auf die sonst eindeutig makellose Haut. «Normalerweise übernehme ich die Verhandlungen mit den Künstlern. Aber Hugh hatte für das verlängerte Wochenende Karten für Bruce Springsteen, und da hab ich dich gebeten.» Hugh, erklärt sie in einem Nebensatz, ist seit zwei Jahren ihr Freund und wartet im Hotel auf sie. Er ist mit hergeflogen, um sie zu unterstützen – wenigstens bis er Montag zurück zur Arbeit muss. Sie verrät mir, dass dies als Vorbote für eine bevorstehende Verlobung aufgefasst werden kann. Doch dann blickt sie mich wie ertappt an, als gäbe es ein Gesetz, das verbietet, in meiner Gegenwart glückliche Gedanken zu haben.
    «Keiner ist daran schuld», antworte ich, obwohl das vielleicht gar nicht stimmt. Vielleicht ist es ja wirklich ihre Schuld, und vielleicht hätte ich eine Million Gründe, stocksauer auf sie zu sein. Wer weiß das schon? Ich jedenfalls nicht.
    Samantha kommt mich zwei Tage hintereinander besuchen, ehe sie wieder nach Hoboken zurückmuss, zurück zu ihrer Achtzigstundenwoche als Juristin bei einem Riesenkonzern und zurück zu ihrem Ehemann und seiner Hundertstundenwoche bei einer Investmentbank. «Manchmal wünschte ich, wir wären noch mal einundzwanzig», sagt sie, legt mir ein altes Verbindungs-T-Shirt vor die Brust und macht mit ihrem iPhone ein Foto, das sie mir sofort unter die Nase hält. Auf dem T-Shirt steht GOLF NIGHT. Sam berichtet mir, das wäre eine Kennenlernparty für unsere Studentinnenverbindung und die beliebteste Studentenverbindung gewesen, auf der in jedem Zimmer ein anderer Drink serviert wurde.
    «Wie Löcher auf dem Golfplatz», erklärt sie. «Du bist immer die Vernünftigste von uns allen gewesen, diejenige, die am wenigsten getrunken hat. Aber es war trotzdem unsere Lieblingsparty. Wir haben immer versucht, dir in jedem Zimmer einen Drink aufzuschwatzen, aber du bist standhaft geblieben: Du warst eben schon mit einundzwanzig viel zu reif für uns.»
    Sie lacht, und obwohl ich weiß, dass es als Kompliment gemeint war, versetzt es mir einen Stich mitten ins Herz. Ich betrachte mein Krankenzimmer, denke an den Ernst, den das Leben mit sich bringt, und ich frage mich, weshalb um alles in der Welt jemand möglichst schnell erwachsen werden und alles bitter ernst nehmen wollte.
    «Wie haben wir uns kennengelernt?», frage ich, in der Hoffnung, dass sich wenigstens das richtig anfühlen würde: dass wir uns auf irgendeiner Kellerparty außerhalb vom Campus
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