Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben
Autoren: Derek B. Miller
Vom Netzwerk:
Bis zu den Bäumen, wo sich ein Scharfschütze verbergen könnte. Unten am Fuß der Bäume. Er hat das bereits vorhin getan. Aber er sieht niemanden. Da draußen ist niemand.
    Er hört auch keine Vögel.
    «Wir gehen weiter», sagt er auf Englisch.
    Er zerrt den Jungen auf das Haus zu, geht rasch die beiden Stufen zur Tür hoch. Er klopft nicht an. Er drückt auf die Klinke und betritt die dunkle Diele, wo er ein vertrautes Gesicht entdeckt, als sich seine Augen an das Licht gewöhnt haben.
    «Wir sind nicht allein», sagte Enver.
    Daraufhin zieht der Schwarze den Jungen ganz ins Haus und schließt die Tür.
    So schnell ist Sheldon also wieder allein. Jeder, der ihm am Herzen liegt, ist in dem roten Haus dort vor ihm. Es ist so unzugänglich wie eine alte Festung. Er dagegen ist so schlaff und nutzlos wie ein alter, dreckbeschmierter Jude, der auf der harten christlichen Erde liegt, in einem Land, das weder ihn noch seine Träume kennt, das nie seine Lieder gehört hat.
    Diese Hände, dieser Körper, sie sind zu nichts mehr nutze. Dienen keinem Zweck. Erfüllen keine Funktion.
    Ich habe mir selbst etwas vorgemacht in meinem letzten Akt.
    Er muss daran denken, wie das kalte Wasser des Gelben Meeres, das gelb ist vom goldenen Flugsand aus der Wüste Gobi, in das Ruderboot drang, während er mit der Kraft eines hellenischen Kriegers paddelte. Er muss an seine damalige Entschlossenheit denken, einer Sache zu dienen, die größer war als er selbst. Den Erfolg, den er einst spürte, und die stille Genugtuung, eine Medaille von seinem Land zu empfangen. Jetzt aber, an diesem Sommertag, hat er seine Liebsten Mördern ausgeliefert. Seine Enkelin und ihren netten Ehemann. Seine Nachbarin. Ihren Sohn.
    Was für ein Narr ich doch war zu glauben, ich könnte etwas ausrichten. Zu glauben, ich könnte mein Schicksal beeinflussen. Genau das ist es, was meinen Sohn getötet hat! Ich habe immer so getan, als wäre ich ein Mann der Tat. Dabei bin ich ein Träumer.
    Es gibt da diesen Witz. Ein rechtschaffener Jude stirbt und sieht Gott. Er tritt auf ihn zu und sagt: «Darf ich dich was fragen?» Gott sieht die Verwirrung auf dem Gesicht des Mannes, bekommt Mitleid. «Ja.» Der Mann fragt also: «Ist es wahr, dass die Juden Gottes auserwähltes Volk sind?» Gott überlegt ein wenig und sagt dann: «Ja. Das ist wahr.» Der Mann denkt darüber nach und nickt. Dann breitet er die Arme aus und sagt: «Würde es dir etwas ausmachen, zur Abwechslung mal jemand anderen auszuwählen?»
    Ich bin ein verrückter alter Mann und habe nichts als Leid verursacht. Ich bereue es so sehr. Ich werde nie sagen können, wie sehr ich es bereue.
    «Redest du da gerade mit mir?», fragt Bill.
    «Warum sollte ich mit dir reden?»
    «Dachte nur so.»
    «Ich möchte nicht mit dir reden. Ich habe dir nichts zu sagen. Es sind andere, denen ich etwas schuldig bin, nicht dir.»
    «Okay.»
    «Ich finde es nicht gut, dass Gott als Ire daherkommt.»
    «Da bist du nicht der Erste, der das so sieht.»
    «Ich möchte nicht alleine sterben.»
    «Das wirst du nicht, Sheldon.»
    Sheldon kriecht auf allen vieren den Weg zum Haus hinüber. An der Ecke des Gebäudes steht er auf. Es fühlt sich gut an, wieder auf beiden Beinen zu stehen. Verdreckt und verlottert schlurft er zur Eingangstür, durch die Paul und sein Entführer verschwunden sind. Mit der rechten Hand zückt er das Messer und hält es fest umklammert. Er hat keine Angst mehr. Er weiß: Hinter dieser Tür wartet sein eigener Tod auf ihn. Drinnen ist der Rest seiner Familie. Drinnen ist diese fabelhafte Frau, die doch gerade eben ein Baby in ihrem Bauch trug, das seiner Familie neues Leben versprach. An jenem Tag saß er wie ein König auf seinem Thron in seinem nordischen Königreich und plapperte sinnlos über längst vergangene Tage.
    Es wird Demenz genannt, hatte Mabel zu ihm gesagt.
    Ja, so ist es, meine Königin. Genauso ist es.
    Sheldon steht am Eingang und lächelt sein letztes Lächeln. Er steht so aufrecht und gerade, wie er nur kann.
    Mit einem tiefen Atemzug drückt Sheldon Horowitz auf die Klinke und stößt die Tür auf.

    «Hier, bieg hier ab», sagt Sigrid. Ihr Kopf brennt jetzt, pocht aber nicht mehr.
    Petter schlägt das Steuer scharf ein und biegt auf den kleinen Weg ab, auf dem wenige Stunden zuvor die Jäger mit ihrem Pick-up gefahren sind und mit dem alten Mann über Angelschnüre und eine Nadel verhandelt haben.
    «Schalt das Licht aus», flüstert sie, als könne ihre Stimme den Dieselmotor
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher