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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben
Autoren: Derek B. Miller
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lange in der Hütte. Seine Augen haben sich an das Dämmerlicht gewöhnt. Er sieht mehr als Schatten. Er sieht das Böse in Person dort um die Ecke. Jetzt wird er nach Hause gehen. Und sich für alles entschuldigen, was er angerichtet hat.
    Er stößt die Tür auf, springt über die zwei Stufen hinab und beginnt zu rennen. Er rennt mit jedem Funken Energie, der in seinem jungen Körper steckt. Er rennt vor Furcht, hat ein Ziel. Er sprintet zu dem Feldweg am Ende der Stallungen, wo sie den Norweger und die Amerikanerin gestern Abend vom Motorrad gestoßen haben, als sie zu fliehen versuchten. Er wird bis in die Stadtmitte rennen und sich der Polizei stellen. Er wird um Vergebung betteln und seine Strafe entgegennehmen – und versuchen, zu dem Mann zu werden, den Adrijana sich immer gewünscht hat.
    Sigrid und Petter sind ausgestiegen und gehen zu Fuß auf das Haus zu, als sie einen einzelnen jungen Mann sehen, der ein großes Messer umklammert hält und mit wilder Entschlossenheit auf sie zugerannt kommt. Er kommt rasch näher. Sigrid hebt die Glock und zielt.
    Sie ruft auf Norwegisch: «Halt, oder ich schieße!»
    Doch Burim spricht kein Norwegisch.
    «Halt, oder ich schieße!», warnt sie ihn ein zweites Mal.
    Doch Burim hat zu große Angst anzuhalten und rennt weiter. Er weiß nicht einmal, dass er ein Messer in der Hand hält, daher kommt ihm auch gar nicht in den Sinn, es fallen zu lassen. Ihm ist nicht einmal klar, dass er hier ist.
    Sigrid feuert, und Burim fällt zu Boden.
    Aus keinem bestimmten Grund sieht Sheldon auf die Armbanduhr, als er den Schuss draußen hört. Es ist zwanzig nach zwei am Nachmittag. Für ihn hat das absolut keine Bedeutung. Was für eine Rolle spielt das schon?
    Er hatte diesen Gedanken bereits einmal, als Saul zwölf Jahre war. Es war mitten im Sommer, sie waren in New York. Etwas Aufregendes – nicht für Sheldon, aber für Saul und seine Freunde – sollte sich gleich auf dem Union Square ereignen, und er musste
unbedingt sofort
nach draußen gehen.
    Aber etwas erregte Sheldons Aufmerksamkeit. Es war ungefähr zwanzig nach fünf, und Mabel bereitete schon das Abendessen vor, während Sheldon sämtliche schwarzen Schuhe im Haus putzte.
    Das, was seine Aufmerksamkeit fesselte, war eine Armbanduhr an Sauls Handgelenk, das nicht das Handgelenk war, an dem diese Uhr hätte prangen sollen. Wenn er jetzt daran zurückdenkt, als er um die Ecke biegt und ins Wohnzimmer des Sommerhauses geht, um nach seiner Enkelin zu schauen, dann weiß er nicht mehr, welche Uhr das war. Eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, was er damals für ein Trara veranstaltete.
    «Hey – wo willst du hin?», hatte er Saul gefragt.
    Saul bremste scharf ab und ließ eine derartige Suada vom Stapel, dass, was immer er da sagte, einfach wahr sein musste und Sheldon auf der Stelle bedauerte, gefragt zu haben, denn mal ehrlich, was für eine Rolle spielte es denn schon?
    Er unterbrach ihn, indem er die Hand hochhielt und sagte: «Okay, okay. Aber was trägst du da an deinem Handgelenk?»
    Saul schaute es an, als wäre das eine Fangfrage.
    «Eine Armbanduhr.»
    «
Meine
Armbanduhr.»
    «Ja, stimmt. Na und? Ich trage sie die ganze Zeit.»
    «Trotzdem musst du fragen.»
    «Ich trage sie die ganze Zeit! Ich frage dich immer, und du sagst immer ‹Ja›. Kann ich jetzt gehen?»
    «Nicht so hastig. Fragen ist wichtig. Jeden Abend nach dem Essen frage ich deine Mutter, ob ich abwaschen soll. Und jedes Mal sagt sie ‹Ja›, aber ich frage trotzdem.»
    «Das ist was anderes, oder?»
    «Weshalb?»
    «Ich weiß nicht. Ist halt so. Kann ich jetzt gehen?»
    Saul. Mein Sohn. Trickst mich im Alter von zwölf Jahren aus. Aber es ist ihm nicht gelungen, als es am meisten darauf ankam.
    Sheldon betritt das Wohnzimmer.
    Sie warten auf ihn. Drei Männer – der, den zu erschießen er versucht hat, einer, den er noch nie gesehen hat, und der Kerl aus dem weißen Mercedes. Sheldon schaut auf ihre Schuhe.
    «Meine Männer haben euch umzingelt. Gebt auf. Lasst das Mädchen und den Jungen frei. Vielleicht kommt ihr dann mit dem Leben davon.»
    Enver mustert eingehend sein Gesicht. Sheldon spürt, dass er versucht, seinen starren Blick zu durchbrechen. Er versucht, eine Verbindung jenseits der Schichten aus Tarnzeug, Blattwerk und Tapferkeit herzustellen. Und obwohl Sheldon seine Rolle gut spielt, eine Eigenschaft kann er nicht maskieren: sein Alter.
    Er ist eben doch ein alter Mann.
    «Ich erkenne dich wieder», sagt Enver.
    «Und ich habe
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