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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben
Autoren: Derek B. Miller
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dem Griffstück trägt.
    Und der Kleine ist Paul.
    Sheldon kneift die Augen zusammen. So fest, dass das Raster aus Zapfen und Stäbchen ein Mosaik auf seine Retina wirft und ihn so wieder zur Vernunft bringt.
    Er blinzelt, immer wieder, um ganz sicher zu sein. Doch, der Junge ist immer noch da.
    Nun gut.
    Er hat also die Wahl, und wie er sich auch entscheidet, er wird scheitern. Wenn er den Fremden erschießt, könnte er, wenn er ganz viel Glück hat, den Jungen ins Dickicht ziehen und unter seiner Tarnmontur so lange verbergen, bis die Polizei kommt. Aber wenn er das tut, opfert er seine Enkelin und Lars denjenigen, die mit im Haus sind. Sie werden den Schuss hören. Sie werden die Leiche finden. Sie werden sich rächen.
    Sheldon mustert Paul durch den Sucher und studiert seinen Gesichtsausdruck. Er hat geheult, sein Gesicht ist rot und geschwollen. Die Gummistiefel heben sich hellblau gegen das kühle Gelb des Sommergrases ab. Paul hat den Helm und die Hörner nicht mehr auf. Sein Davidstern wirkt jetzt weniger wie ein ironischer Kommentar, sondern eher wie eine Zielmarkierung, eine Provokation. Seine Schritte haben etwas Widerspenstiges, sein Gesicht zeigt Gefühlsregungen, wo bislang keine waren. Der Junge wurde bis an seine Grenzen getrieben. Und noch immer weiß er nicht, dass seine Mutter tot ist.
    Sheldon kann nur ahnen, was mit den Jägern ist.
    Der Schuss scheint nun doch einfacher zu sein. Sie kommen auf ihn zu. Auf das Haus. Donny entsichert die Waffe und nimmt die Augen des Mannes ins Fadenkreuz. In seinem Blick ist nichts Hasserfülltes. Er spricht nicht, und Pauls widerborstige Haltung scheint ihn nicht interessieren. Er ist viel größer als Paul und zieht diesen, wohin er will.
    Donny senkt den Blick auf die Mitte der Brust des Mannes. Die Waffe ist ihm nicht vertraut. Er weiß nicht, wie die Munition reagiert, wie genau das Zielfernrohr justiert ist und ob der Lauf gereinigt wurde. Das Beste wird wohl sein, auf den Masseschwerpunkt zu zielen und zu hoffen, dass seine Hände nicht zucken, dass das Gewehr reagiert und dass Paul zu ihm kommen wird, wenn er ihn ruft.
    Genauer gesagt hofft er, dass Paul in den Wald gelaufen kommt, wenn ein Name, der nicht seiner ist, in einer Sprache, die er nicht spricht, von einem Mann gerufen wird, der ein Gewehr in der Hand hält und wie ein Busch aussieht.
    Kein guter Plan.
    Er atmet ein. Lässt die Luft tief in seine Lungen fließen und dann langsam wieder entweichen. Dann atmet er erneut, diesmal flacher als beim ersten Mal, und lässt den Atem nur zur Hälfte entweichen. Ohne Hanks Hilfe überprüft er den Wind ein letztes Mal. Er studiert den Gang seines Zielobjekts und schätzt die Entfernung ab und die Zeit, bis die Kugel diese Distanz überwunden hat und den Mann genau im richtigen Augenblick ins Herz trifft.
    Achtundfünfzig Jahre ist es her, seit Sheldon Horowitz zum letzten Mal auf einen Feind gezielt hat.
    Als Sheldon die Balance und seine Position gefunden hat, tritt Ewigkeit an die Stelle der Zeit.
    Indem er seine Form findet, gewinnt er an Gelassenheit.
    Ein Augenblick der Ruhe setzt ein.
    In diesem Augenblick der Ruhe drückt Donny ab.

22. Kapitel
    «Du fährst wie eine alte Frau», sagt Sigrid zu Petter, als er in der Ortsmitte von Kongsvinger an der Esso-Tankstelle vorbeifährt. Sie hat die Hand an die Stirn gelegt und starrt auf die Straße, als wolle sie ihr zu verstehen geben, sie möge doch bitte schneller unter den Rädern ihres Volvos vorbeiziehen.
    Sie haben bereits die Meldung über Funk gehört: Auf einer kleinen Seitenstraße in der Umgebung der Tankstelle wurden Schüsse abgegeben.
    «Ich fahre, so schnell ich kann. Normalerweise tu ich so was nicht.»
    «Du musstest doch einen Test absolvieren.»
    «Ja, aber der wird ja nie wiederholt.»
    «Das muss ich in meinen Bericht aufnehmen.»
    «Kein Grund, gleich unverschämt zu werden!»
    «Ich bin halt extrem nervös gerade.»
    «Zumindest hast du recht behalten», sagt Petter.
    Es ist ein seltsamer Kommentar und nicht gerade ein Trost. Die Streifenwagen sind erst vor fünf Minuten am Tatort eingetroffen. Es gab einen Überlebenden mit einer Schusswunde im Kreuz, dessen Zustand kritisch ist und der per Rettungshubschrauber nach Oslo gebracht wurde. Eine vorbeifahrende Motorradfahrerin hatte angehalten, und als sie ihren Schock überwunden hatte, machte sie sofort Meldung bei der örtlichen Polizei. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Sigrid informiert war.
    Sie zieht eine blaue Flasche mit
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