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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser
Autoren: Marie-Aude Murail
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Armen ruhig.
    »Der beschimpft mich! Der beschimpft mich!« Tom stampfte mit den Füßen.
    Toussaint war seinem Zwillingsbruder zu Hilfe geeilt und drückte ihn an sich. Er brüllte: »Du darfst den da nicht schlagen!«
    Die Szene schien die Kinder zu erschrecken, und Philippine brach in Tränen aus.
    »Wisst ihr, dass Kicko-Kack Hase eines Tages eine Ohrfeige auf sein kaputtes Ohr bekommen hat?«, sagte die ganz, ganz leise Stimme von Cécile.
    Es war wie Zauberei. Toussaint ließ Démor los, Démor wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, Philippine schluchzte nicht mehr, Tom hörte auf, um sich zu schlagen. Im Angesicht der Stille fühlte Cécile sich wie ein Schriftsteller vor einem weißen Blatt. Erfinde was, erfinde was! Sie ließ ihre Geschichte ablaufen, als würde sie sie bereits kennen. Als sie fertig war, hatte sie siebzehn Lächeln vor sich, Steven war eingeschlafen. Aber Cécile verlor ihr Unterrichtsziel nicht aus den Augen.
    »Glaubt ihr, dass die Gruppe der Jungen in der Klasse größer oder kleiner ist als die Gruppe der Mädchen? Oder vielleicht gleich groß?«
    Überall ertönten verschiedene Meinungen.
    »Größer!«, rief Ines, die sich mehr oder weniger zu den Jungs zählte.
    »Nein, kleiner, es sind mehr Mädchen!«, riefen Lisa und Claire, die beiden Unzertrennlichen, aufgeregt.
    »Wie gehen wir vor, um es herauszufinden?«, fragte Cécile.
    Die Kinder beschlossen, Mädchen und Jungen jeweils getrennt zu zählen, und die ganze Klasse summte vor Zahlen.
    »Kommt nach der Sieben die Neun oder die Sechs, Madame?«, fragte Steven.
    Am Ende kamen alle durcheinander.
    »Es gibt mehr Mädchen!«, riefen die Mädchen.
    »Es gibt mehr Jungen!«, riefen die Jungen.
    »Ich habe eine Idee«, flüsterte Cécile. »Jedes Mädchen gibt einem Jungen die Hand. Wenn ein Junge allein übrig bleibt, bedeutet das dann, dass es mehr Jungen gibt oder mehr Mädchen?«
    Auch in diesem Punkt waren die Meinungen geteilt. Aber alle wollten die Lösung der Lehrerin ausprobieren. Eglantine stand als Erste auf und rief einen Jungen: »Toussaint!«
    Die beiden Kinder gingen Hand in Hand nach hinten.
    »Ohh, die Verliebten!«, trällerte Démor.
    Unter Céciles gerührtem Blick folgten weitere Paare. Ines, an der ein Junge verlorengegangen war, wählte den streitlustigen Tom. Philippine, die Empfindsame, nahm Robin unter ihre Fittiche. Es war sehr schwer, Lisa von Claire zu trennen. Marianne kam mit Steven zusammen, denn mit seinem Ausschlag im Gesicht hatte ihn niemand gewollt. Im Ganzen gab es neun Paare.
    »Und?«, fragte Cécile. »Gibt es mehr Jungen oder mehr Mädchen?«
    »Gleichstand!«, trompetete Baptiste, dem dieses ganze laute Durcheinander sehr gefiel.
    »Richtig«, sagte Cécile. »Es gibt gleich viele Jungen wie Mädchen.«
    »Und du, Madame, wer ist dein Verliebter?«
    Cécile errötete: »Démor, so etwas fragt man nicht!«
     
    In der 10 -Uhr-Pause schleppte sich Melanie Muller, deren Klassenzimmer direkt neben dem von Cécile lag, mit ihrer hageren Gestalt ins Lehrerzimmer und ließ sich in den einzigen Sessel fallen.
    »Wegen der ist mein Kopf jetzt wie Brei«, jammerte sie. »Deren Erstklässler haben heute Morgen einen riesigen Radau gemacht!«
    Marie-Claude Acremant warf ihrer Kollegin einen Blick zu. Sie hätte gern mit ihr über die Neue getratscht. Aber sie hatte gerade das Fenster aufgemacht und hielt das Gesicht in den Spalt, um gegen die Vorschrift eine zu rauchen. Seufzend stand Melanie Muller wieder auf und schleppte sich zum Wasserkocher. Außer ihren neunzehn Zweitklässlern hatte sie eine zweijährige Tochter und einen neun Monate alten Sohn. Mit krummem Rücken und schlaffem Bauch war sie das leibhaftige Bild der Erschöpfung. Aber nie schrie sie ihre Schüler an, nie regte sie sich über ihre Kinder auf. Sie seufzte nur.
    »Hast du keine Probleme mit deinen Baoulés?«, fragte sie ihre Kollegin.
    Rasch nahm Marie-Claude zwei Züge, dann drückte sie ihre Kippe aus. Sie konnte nicht alle Gelegenheiten verpassen, sich abzureagieren.
    »Ich habe die Zwillinge allein an einen Tisch gesetzt«, sagte sie mit ihrer heiseren Raucherstimme. »Die arbeiten nicht mit und reden die ganze Zeit. Und weißt du das Beste? Sie kommen nicht mit ins Schullandheim! Alle drei! Die Mutter hat in ihrem Kauderwelsch irgendeinen Schwachsinn geredet. Sie wären allergisch gegen Erdnüsse. So ein Blödsinn! Ich wette, der Vater will Clotilde nicht gehen lassen.«
    Sie ging zu ihrer Kollegin, die sich einen
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