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Jeans und große Klappe

Jeans und große Klappe

Titel: Jeans und große Klappe
Autoren: Evelyn Sanders
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1
    »Mami, hat eigentlich jeder König einen Augapfel?«
    ???
    »Na ja, hier steht nämlich: Der König hütete seine Tochter wie seinen Augapfel.«
    Zum Kuckuck noch eins! Wann werden die Autoren von Lesebüchern endlich begreifen, daß ihre Konsumenten keine märchengläubigen Kinder mehr sind, sondern fernsehtrainierte Realisten, die sich nicht mit nebulösen Vergleichen abspeisen lassen. Ich erkläre also meiner neunjährigen Tochter Katja seufzend, was ein Augapfel ist und weshalb man ihn hüten muß.
    Katja ist noch nicht zufrieden. »Wenn der doch aber angewachsen ist, dann braucht man ihn gar nicht zu hüten, der geht ja sowieso nicht verloren.«
    Erfahrungsgemäß ist es in solchen Fällen angebracht, das Thema zu wechseln. »Wieso lest ihr in der dritten Klasse überhaupt noch Märchen?«
    »Weil Frau Schlesinger die schön findet. Außerdem sollen wir das gar nicht lesen, sondern bloß die Tunwörter herausschreiben. Ist ›hütete‹ ein Tunwort?«
    Jetzt schaltet sich Zwilling Nicole ein. »Natürlich ist das ein Tunwort, schließlich kannst du doch sagen: ›Ich tu die Schafe hüten.‹«
    O heiliger Scholastikus, oder wer immer für die Einführung der allgemeinen Schulpflicht verantwortlich gemacht werden kann, hab' Erbarmen! Da bemüht man sich jahrelang, seinen Kindern ein halbwegs vernünftiges Deutsch beizubringen, und kaum marschieren sie jeden Morgen bildungsbeflissen in ihren Weisheitstempel, vergessen sie alles und tun Schafe hüten.
    Zum Glück taucht Stefanie auf, dreizehn Jahre alt, Gymnasiastin, mit den Lehrmethoden in Grundschulen aber noch hinlänglich vertraut.
    »Jetzt mach' den beiden bitte mal klar, warum Verben Tunwörter heißen, wenn man tun überhaupt nicht sagen darf!«
    Steffi macht sich an die Arbeit. Sie kennt das schon. Bei der Mengenlehre muß sie auch immer einspringen. Die habe ich bis heute nicht begriffen. Als ich noch zur Schule ging, rechneten wir mit Zahlen und nicht mit Schnitt-, Rest- und Teilmengen.
    Angeblich sollen die Kinder mit Hilfe der modernen Lehrpläne ein besseres Verständnis für Mathematik entwickeln. Stefanie hat in Mathe eine Vier.
    Die Zwillinge haben inzwischen begriffen, was sie machen sollen, und schreiben eifrig. Wenn man sie jetzt sieht, die blonden Köpfe über die Hefte gebeugt, kann man sie tatsächlich für Zwillinge halten. Sonst nicht. Besucher, die nicht mit den Familienverhältnissen vertraut sind, vermuten in den beiden bestenfalls Schwestern, von denen die eine mindestens anderthalb Jahre älter ist. Nicole überragt ihre andere Hälfte um eine ganze Kopflänge, hat ein schmales Gesicht, braune Augen und ein sehr ausgeglichenes Naturell. Katja ist ein Quirl, aus ihren blauen Augen blitzt förmlich der Schalk, und um ihre Schlagfertigkeit beneide ich sie täglich aufs neue. Beleidigt ist sie nur, wenn man ihr doch sehr fortgeschrittenes Alter nicht respektiert und der Schaffner keine Fahrkarte verlangt, weil »der Kleine ja noch umsonst fährt«.
    »Erstens bin ich ein Mädchen, und zweitens bin ich neun!« tönt es dann prompt zurück. Im Hinblick auf die Preise der öffentlichen Verkehrsmittel bin ich von Katjas Wahrheitsliebe nicht immer begeistert.
    Als kürzlich ein Handarbeitsgeschäft neu eröffnet wurde und die Inhaberin kleine Werbegeschenke verteilte, kam Katja voller Empörung von ihrem Inspektionsgang zurück und erklärte mir drohend: »Wehe, wenn du in dem Laden mal irgend etwas kaufst. Nicki hat eine Stickkarte gekriegt, und mir hat die alte Krähe bloß einen Luftballon geschenkt. Den sollte ich mitnehmen zum Kindergarten. Na, der habe ich vielleicht was erzählt!«
    Unsere Familie besteht aber nun keineswegs nur aus den drei Mädchen. Wie es der Statistik und auch einer ungeschriebenen Regel entspricht, hat der erste Nachkomme seit alters her ein Knabe zu sein. Der unsere heißt Sven, ist gerade volljährig geworden und trägt die Last des Erstgeborenen mit stoischem Gleichmut. Alle in ihn gesetzten Erwartungen hat er prompt mißachtet. Natürlich sollte er etwas ganz Besonderes werden, Diplomat mit internationalen Weihen, Dozent in Harvard oder wenigstens Wissenschaftler mit Aussicht auf den Nobelpreis. Selbstverständlich würde er die Intelligenz seines akademisch gebildeten Großvaters väterlicherseits mitbringen sowie die aufrechte Gesinnung seiner preußisch-beamteten Vorfahren mütterlicherseits, von der einem deutschen Beamten nachgesagten Ordnungsliebe ganz zu schweigen. (Svens Zeugnisse waren mehr als
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