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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser
Autoren: Marie-Aude Murail
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ertrank, hob den Kopf. Cécile flüsterte, als würde sie ein Geheimnis erzählen: »Weil sein Bruder ihm gesagt hatte, dass in der Schule alle, die nicht lesen können, auf der Toilette eingesperrt werden!«
    »Dem doofen Bruder schlag ich die Fresse ein!«, rief Baptiste empört und war schon aufgesprungen.
    Als der Direktor das Klassenzimmer betrat, packte Kicko-Kack gerade seinen Ranzen, um trotz seines großen Bauchwehs in die Schule zu gehen.
    »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Monsieur Montoriol. »Haben Sie gefragt, wer in der Kantine isst und wer zur Hausaufgabenbetreuung geht?«
    »Ähh … Nein.«
    »Haben Sie die Lese- und die Mathebücher verteilt? Nein?«
    Monsieur Montoriol unterdrückte einen Seufzer, dann ließ er den Blick über die Kinder schweifen, die still dasaßen, und dachte, er habe sie eingeschüchtert. In Wirklichkeit warteten sie darauf, dass er verschwand, damit sie die Fortsetzung der Geschichte hören konnten.
    »Gut, seid brav, Kinder. Ihr habt eine … eine liebe Lehrerin.«
    Er verließ den Raum und machte dabei eine schnelle Handbewegung zu Cécile, die bedeutete: Kommen Sie mal ein bisschen auf Trab.
    Als es am Ende des ersten Tages klingelte, hatte Cécile:
    den Kindern das Lied
Mein Häschen ist in den Garten gerannt, such mich, such mich, ich bin hier
beigebracht,
es nicht geschafft herauszufinden, wer in der Kantine isst und wer zur Hausaufgabenbetreuung geht,
ihren Schülern gezeigt, wie man mit dem Bauch atmet, dicker Bauch, dünner Bauch, und wir atmen laaangsam aus,
sich alle Vornamen gemerkt,
gut zwanzig Mal dafür gesorgt, dass Baptiste sich wieder hinsetzte,
den Kindern vorgeschlagen, ihre Familie zu malen (Toussaint und Fête des Morts hatten jeder zwei Blätter gebraucht),
Migräne bekommen und die Stimme verloren.
    Als die Schule an diesem ersten Schultag aus war, hatten sich zahlreiche Eltern vor dem Tor versammelt und warteten.
    »Bis morden, Madame!«
    »Bis morgen, Audrey!«
    »Auf Wiedersehen, Madame!«
    »Auf Wiedersehen, Tom!«
    Cécile verabschiedete sich von einem Kind nach dem anderen und wich dabei den Blicken der Eltern aus. Die Mama und die Großmutter von Philippine waren beide da. Philippine war schmächtig, ihre Mutter mager und ihre Großmutter klapperdürr, als läge es im Schicksal dieser Frauen, im Laufe der Jahre zu vertrocknen. Philippine hüpfte davon: »Die Lehrerin, die kennt einen Hasen. Weißt du, wie der heißt?«
    »Nein, mein Liebling.«
    »Kicko-Kack!«
    Die Mama zuckte zusammen.
    »Ich mag es ü-ber-haupt nicht, wenn man solche Wörter sagt.«
    Die Kleine stampfte auf dem Bürgersteig mit dem Fuß auf.
    »Aber Hasen finden das schön. Das hat die Lehrerin gesagt!«
     
    An diesem Abend wollte Cécile noch ein bisschen über ihre Schüler nachdenken. Sie zog eine Liste hervor, die Eric ihr gegeben hatte, der Lehrer der benachbarten Vorschule. Im vergangenen Jahr hatte er elf von den achtzehn Erstklässlern von Cécile betreut, und um der jungen Grundschullehrerin zu helfen, hatte er sie kurz analysiert. Das ergab das Folgende:
    Die Baoulés. Fête des Morts (seine Freunde nennen ihn nur Démor) ist trotz seiner Behinderung sehr reif. Toussaint ist verschlossener. Sie sind im laufenden Schuljahr dazugekommen. Beide machen sich keinen Stress.
Audrey Cambon. Müsste zum Logopäden. Die Eltern wollen nichts davon wissen. Sie füttern sie mit Superstar-Sendungen. Beginnende Fettleibigkeit.
Eglantine de Saint-André. Kann schon lesen. Zu verwöhnt. Großes Drama mit älterem Bruder (keine genaueren Informationen).
Vincent Gautier. Adoptivkind. Kein Spaßvogel, aber fleißig. Chinese eben.
Jean-René Marchon. Bei den Pfadfindern aufgewachsen. Kinderreiche Familie. Eltern ziemlich etepetete.
Robin Peyrolles. Unreif. Zeichnet gut. Verwechselt 6 und 9 .
Louis Pons. Lispelt. Lieb, kümmert sich zu sehr um die anderen.
Steven Mussidan. Beschränkter IQ . Macht sich noch manchmal in die Hose. Bleibt in der Pause allein. Möglicherweise Förderklasse.
Marianne Tiébaut. Sehr langsam, zu verträumt. Ist noch bei der Vorspeise, wenn die anderen beim Nachtisch sind.
Philippine Martin. Gewissenhaft und fleißig.
    All das war erschreckend. Cécile hätte nicht so recht sagen können, warum. Vielleicht, weil es einmal ein kleines ernstes und fleißiges Mädchen gegeben hatte, dem niemand, nein, niemand angemerkt hatte, dass sie ihren Papa so sehr vermisste, dass sie manchmal vollständig verschwinden wollte.

Kapitel 3 In dem die Fruchtkekse von
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