Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser
Autoren: Marie-Aude Murail
Vom Netzwerk:
was für ein schöner Mann … Oh, aber das ist ja ein Kind!
     
    »Ich bin voll«, sagte er und legte sich die Hand auf den Bauch.
    Er hatte alles weggeputzt.
    »Erinnerst du dich? Als ich klein war, hast du mir ein Buch geschenkt,
Jeder macht sein Häufchen
 …«
    Sie lächelte erstaunt. »Daran kannst du dich noch erinnern?«
    »Mmmm. Das war mein Lieblingsbuch. Vor allem das Ende. Da hieß es:
Jeder isst – und deshalb machen alle Kacka.
«
    Und damit erhob er sich und bewegte sich mit seinen schlurfenden Schritten Richtung Toiletten. Cécile schüttelte den Kopf. Gil, was machen wir nur mit dir?

Kapitel 2 In dem man erfährt, dass Fête des Morts verbrannt wurde
    Und es kam der große Tag. Der 2 . September.
    »Soll ich mitkommen?«
    »Nein, Mama.«
    Cécile musterte sich ein letztes Mal im Spiegel. Mit ihrer halblangen Hose und ihrem langärmligen Shirt war sie … »völlig unauffällig«, schloss sie ganz objektiv.
    »Du hast abgenommen«, bemerkte Madame Barrois.
    Seit einer Woche konnte Cécile vor innerer Unruhe kaum essen. Sie tastete ihren schmerzenden Hals ab.
    »Ich bekomme eine Halsentzündung.«
    Sie hatte nur noch eine ganz dünne Stimme. Ihre Mutter wollte sie beruhigen: »Es nutzt bei Kindern nichts zu schreien. Dein Papa würde dir sagen:
Die Autorität geht über den Blick.
«
    Cécile verzog das Gesicht, sie war sich nicht allzu sicher, ob der Ratschlag ihr eine große Hilfe sein würde.
    Als sie auf den Schulhof kam, waren bereits zahlreiche Eltern da, braungebrannte und eloquent redende Innenstadteltern. Aber Cécile sah unter den Lindenbäumen nur Eine: eine prachtvolle Afrikanerin, deren Bauch ihr Kleid nach vorne schob wie der Wind ein Segel.
    »Die Schule ändert gerade ihr Erscheinungsbild«, sagte jemand ganz in der Nähe von Cécile spitz. »Womöglich werde ich meine Kinder auf die Saint-Charles schicken.«
    »Ich habe nichts gegen Schwarze, aber das sind jetzt zu viele«, fügte ihre Nachbarin hinzu.
    Cécile unterdrückte ein Lächeln. Im Pausenhof war ein ganzer Trupp Baoulés versammelt.
    »Wie geht’s? Sehr aufgeregt?«
    Cécile schreckte zusammen. Sie hatte Monsieur Montoriol nicht kommen sehen. Er lächelte ihr väterlich zu, dann entfernte er sich, ohne eine Antwort abzuwarten, und rief: »Madame Gervais! Da muss wirklich erst Schulanfang sein, damit man das Vergnügen hat, Sie zu sehen! Und Véronique, immer noch in Paris?«
    So ging der Herr Direktor von einer Gruppe zur anderen und schritt die Reihe der Eltern und Kindern ab.
    »Madame Baoulé! Sie sehen wirklich blendend aus!«
    Monsieur Montoriol benahm sich wie ein Mann von Welt, hatte aber dennoch einen irritierten Blick auf den dicken blaugoldenen Bauch gerichtet. Die Afrikanerin lächelte ihn schüchtern an.
    »Ich habe Ihre Schwägerin noch gar nicht gesehen«, fügte der Herr Direktor hinzu, um etwas zu sagen.
    »Meine Schwäge’in passt auf Pélagie auf. Pélagie hat die ganze Nacht geb’ochen. Sie hat Magen-Da’m …«
    »Ach ja, sehr gut, wunderbar, wunderbar«, trällerte Monsieur Montoriol, der bereits den Rückzug antrat.
    Cécile, die wie angewurzelt mitten im Hof stehen geblieben war, wurde von einem ziemlich aufgeregten Paar angerempelt.
    »Ja, wo ist denn nur die Lehrerin der ersten Klasse?«
    Mehrere Menschen schienen nach ihr zu suchen, während sie den Tod von Madame Maillard bedauerten.
    »Liebe Freunde …«
    Im Hof erhob sich eine Stimme und übertönte die anderen.
    »Liebe Eltern, liebe Kinder, ich hoffe, Sie und ihr hattet alle schöne Ferien …«
    Der Herr Direktor begann mit der traditionellen Begrüßungsrede. Einige machten »pst, pst«, um ihm zuhören zu können, was dazu führte, dass man deutlich ein schluchzendes Kind hörte: »Ich will nicht in die Schuuuule …!«
    Cécile schnürte es das Herz zusammen. Das musste einer ihrer Schüler sein.
    »Und jetzt rufen wir alle auf, Klasse für Klasse.«
    Monsieur Montoriol gab Cécile ein Zeichen, und die Eltern entdeckten die Frau, die sie für die große Schwester eines Schülers gehalten hatten, sofern sie ihre Existenz überhaupt wahrgenommen hatten. Cécile faltete ihre Liste auseinander, die nur achtzehn Namen enthielt, und mit einer jetzt schon fast versagenden Stimme begann sie: »Baoulé, Fête des Morts, Baoulé, Toussaint …«
    Zwei Baoulés mittlerer Größe schoben zwei ganz kleine Baoulés zu ihr. Sie lächelte ihnen zu, ohne sie wirklich zu sehen, so verschleiert war ihr Blick. Ihr war, als hätte sie Sand in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher