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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser
Autoren: Marie-Aude Murail
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der Schule. Als er Cécile bemerkte, verstummte er und deutete ihr gegenüber erneut eine spöttische Verbeugung an.
    Cécile, die es hasste, wenn sie die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, lief davon. Außerdem musste sie noch die Straßenbahn erwischen. Sie war am Place Anatole-Bailly mit dem Jungen verabredet, den sie mehr als alles andere liebte und den sie seit drei Wochen nicht gesehen hatte. An eine Hauswand gelehnt wartete sie mit verschränkten Armen gute zwanzig Minuten und spürte, wie ihre Sorge größer und größer wurde. Und wenn der Bus einen Unfall gehabt hatte? Und wenn Gil abgehauen war? Und wenn … Nein, da war er! Groß, kräftig, mit Rucksack, braungebrannt von der Sonne, eine merkwürdige schwarze Mütze über den blonden Haaren. Die Jeans hingen ihm tief auf den Hüften, so tief, wie der Anstand es gerade noch erlaubte. Am Ende der Straße war er ein Mann gewesen. Aber direkt vor ihr war er ein Kind mit dem Lächeln eines Engels. Mit einem fünfzehnjährigen Lächeln.
    »Bist du kleiner geworden?«, fragte er und beugte sich zu seiner Schwester, um ihr einen Kuss zu geben.
    »Du übertreibst, Gil. Bald finden wir nichts mehr zum Anziehen für dich!«
    Sie war begeistert, dass er noch mal gewachsen war.
    »Hast du meine Flipflops gesehen? Größe 47 !«
    »Hast du Hunger?«
    »Ist das eine Frage?«
    Er aß alle drei Stunden, wie ein Säugling.
    »Gehen wir zum Burger?«
    Cécile war nicht gut bei Kasse. Aber sie wollte ihrem Bruder einen Gefallen tun. Sie betraten daher den Tchip Burger am Place Anatole-Bailly, und Cécile stellte sich in eine Schlange.
    »Drei Big-Burger«, flüsterte Gil ihr zu, als verstehe sich das von selbst. »Einmal Pommes, Sprite, einen Brownie.«
    Er inhalierte die Mischung aus Zucker- und Fettdüften und musste vor Hunger gähnen.
    »Ich könnte einen Karibu verschlingen«, erklärte er.
    Er biss seiner Schwester in die nackte Schulter. Sie zuckte zusammen und unterdrückte einen Schrei. Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn Gil die Bestellung aufgegeben hätte, aber er schlurfte in seinen Flipflops davon. Als nur noch zwei Kunden vor ihr standen, wagte es Cécile, den Blick zur Bedienung zu heben. Wie schrecklich, es war ein Mann! Sie würde einem Mann ihre Wünsche beichten müssen. Sie warf ihm zwei, drei Mal einen flüchtigen Blick zu. Er trug das vorschriftsmäßige kurzärmelige rote Hemd. Sein blassgrauer Blick verlieh ihm etwas Bedrohliches. Cécile versuchte, ihm einen Schlafanzug anzuziehen, aber die Kappe machte das schwierig.
    »Zum Hieressen oder zum Mitnehmen?«
    Sie konnte den Blick nicht bis zu seinen Augen heben und begnügte sich damit, sein Namensschildchen anzusprechen: »Zum Hieressen bitte. Ich hätte gerne drei Big-Burger …«
    Daraufhin hörte sie eine Stimme unbeteiligt flüstern: »Drei Rinderwahnsteaks auf Cholesterinbett.«
    Abrupt starrte sie den Angestellten an. Ungerührt schien der junge Mann auf die Fortsetzung der Bestellung zu warten. Hatte Cécile geträumt?
    »Sechs Mal Nuggets«, murmelte sie.
    »Sechs Mal frittiertes Hühnerpressfleisch. Welche Saucen?«
    »Chinese und Barbecue.«
    »Chichi und Barbie. Was zu trinken?«
    Der Typ war verrückt. Auf seinem Namensschildchen stand sein Vorname. So schnell wie möglich ratterte Cécile ihre restliche Bestellung herunter, um sich keine weiteren Kommentare einzuhandeln. Als alles auf dem Tablett stand, schob der junge Typ es ihr hin und murmelte: » 01 40 05 48 48 .«
    »Wie bitte?«
    »Das ist die Nummer vom Gift-Notruf.«
    Er zwinkerte ihr zu.
    » 20 , 80 .«
    Cécile bezahlte und entfernte sich zitternd. Niemals würde sie das, was gerade geschehen war, irgendjemandem erzählen können. Der Junge hieß Eloi. Einer seiner Kollegen ging hinter ihm vorbei und flüsterte ihm zu: »
Die Firma
ist da.«
    Eloi wandte halb den Kopf. Am Ende der Theke sah er den Mann mit den hochgekrempelten Ärmeln, der seine Angestellten überwachte. Die Wirkung war durchschlagend. Ein verführerisches Verkäuferlächeln brachte Elois schmales Gesicht zum Leuchten: »Guten Tag! Zum Hieressen oder zum Mitnehmen?«
     
    Cécile bemerkte nicht, dass Zufall oder Schicksal zum dritten Mal den Mann mit den vergoldeten Eiern ihren Weg kreuzen ließ. Sie war zu sehr damit beschäftigt, im Nichtraucherbereich einen Tisch an der Wand zu suchen, wo sie ihr Tablett abstellen konnte. Am liebsten wäre sie in der Wand verschwunden. Alle sahen zu ihrem Bruder, wenn er vorbeiging. Mit einem Blick in zwei Schritten: Ach,
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