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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser
Autoren: Marie-Aude Murail
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den Ohren, der mit seinem Knirschen den Klang ihrer Stimme überdeckte.
    »Cambon, Audrey. Chaussat, Tom …«
    Sie war kaum zu hören. Mit einer heftigen Bewegung konfiszierte Monsieur Montoriol die Liste und fuhr mit lauter, durchdringender Stimme fort: »De Saint-André, Eglantine! Foucault, Claire!«
    Die Kinder kamen und stellten sich auf, Robin Peyrolles brüllte dabei immer noch: »Nein, Mama, ich will nicht!«. Cécile nahm ihn an der Hand und führte ihn zum Klassenzimmer. Die übrigen folgten spontan.
     
    Als sie dann in der Klasse waren, stürzten die Kinder sich auf die Bänke, die Mädchen zu den Mädchen, die Freunde zu ihren Freunden, die Wilden ganz hinten. Cécile schloss die Tür, so wie man beim Ablegen des Schiffes die Gangway einholt. Sie drehte sich um, und alle sahen sie an.
    »Ich heiße Cécile Barrois«, sagte sie.
    Sofort hob ein kleiner Junge den Arm: »Madame, ich will nicht neben dem sitzen bleiben.«
    Er deutete auf seinen Nachbarn. Es war einer der beiden Baoulés.
    »Und warum?«
    Der Junge – es war Tom Chaussat – saß auf einer Pobacke ganz am äußersten Rand der Schulbank, kurz davor, in den Gang zu fallen.
    »Der hat so ein ganz kaputtes Gesicht.«
    Fête des Morts hob mit genervtem Seufzen den Blick zur Decke. Schon wieder diese alte Geschichte!
    »Ich hab mich als Baby verbrannt.«
    Alle stießen entsetzte Schreie aus. Fête des Morts hatte auf der linken Kopfhälfte keine Haare, seine Haut wellte sich über der Schläfe bis zum Rand des Auges. Die Brandwunde war unkontrolliert vernarbt, die Haut war wie zerkocht, und selbst das Ohr war angegriffen.
    »Ach, das ist ja komisch«, sagte Cécile mit ihrer leisen Stimme. »Ich kannte mal ein Hasenbaby, dem so etwas passiert ist. Seine Wiege hatte gebrannt. Seine Mama … Oh – du kennst seine Mama nicht?«
    Sie sah Robin fragend an. Er schüttelte ernst den Kopf.
    »Sie heißt Madame …«
    Cécile entdeckte in diesem Augenblick
Familie Hase fährt Zug.
    »… Madame Hase, und sie hatte ihr Baby …«
    Cécile lächelte schelmisch, als sie an das Lieblingsbuch ihres Bruders dachte.
    »Sie hatte es Kicko-Kack genannt. Kicko-Kack Hase.«
    »O nein, das ist kein schöner Name!«, protestierte ein kleines Mädchen ärgerlich.
    »Wie heißt du?«
    »Philippine.«
    »Philippine, das ist ein sehr hübscher Name. Und zu einem Hasen passt Kicko-Kack bestens.«
    Die hinterste Reihe fing an zu lachen, und ein sehr unruhiger Junge sprang mit einem Satz auf und rief: »Der macht überall Kacka!« Da er die Szene spielte, musste Cécile zu ihm gehen, um dafür zu sorgen, dass er sich wieder setzte.
    »Wie heißt du?«
    »Baptiste Kicko-Kack.«
    Cécile hatte das Gefühl, mit dem Feuer zu spielen. Dennoch dachte sie sich Satz für Satz das schreckliche Abenteuer des kleinen Hasen aus, der sich in der Wiege verbrannt hatte. Am Ende der Geschichte hatte Kicko-Kack zur allgemeinen Zufriedenheit nur noch sein rechtes Ohr und die Hälfte seiner Schnurrbarthaare, aber er hatte seine Familie vor den Zähnen des Fuchses gerettet.
    »Wie wäre es, wenn wir alle unsere Namen sagen würden?«, schlug Cécile vor.
    Jeder kam und schrieb seinen Namen an die Tafel, wobei der eine oder andere dabei manchmal einen oder zwei Buchstaben vergaß. Außer Toussaint und Fête des Morts, die Zwillinge waren, gab es noch Audrey, die alles »danz swer« fand, Tom den Streitlustigen, Eglantine die Allerschönste, Claire und Lisa, die Unzertrennlichen schon seit der Krippe, Vincent den Chinesen, Baptiste den Hyperaktiven, Steven, der immer abwesend schien und den selbst die Hasen gleichgültig ließen, Robin, der immer noch der Vorschule nachtrauerte, Philippine die Überempfindliche, Jean-René, brav bis zur Versteinerung, Maeva mit Angst vor Jungs, Ines, unschlagbar beim Murmelspielen und begeisterte Yu-Gi-Oh!-Karten-Sammlerin, Louis, der fast keine Zähne mehr hatte, die er der Zahnfee schenken konnte, Floriane, weizenblond, und Marianne, die wartete, bis es Zeit fürs Mittagessen war.
    »Wisst ihr, warum ihr in der ersten Klasse seid?«, fragte Cécile.
    Sie schrien aus vollem Hals: »Damit wir lesen lernen, Madame!«
    Robin ließ sich auf seinen Tisch fallen: »Ich will nicht lesen lernen …«
    Bestürzt sahen alle Kinder Cécile an. Was sollte man mit so einem Sozialfall tun?
    »Das ist ja komisch«, sagte sie mit ihrer leisen Stimme. »Hase Kicko-Kack wollte auch nicht lesen lernen. Und wisst ihr warum?«
    Robin, der gerade halb in seinen Tränen
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