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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser
Autoren: Marie-Aude Murail
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Chantal Pommier verschwinden
    »Du bist noch nicht im Bett?«, fragte Madame Barrois besorgt.
    »Nein, ich bereite die Arbeitsblätter zum Lesenlernen für morgen vor.«
    Cécile hatte vor Müdigkeit ganz kleine Augen.
    »Das Lehrbuch, das Madame Maillard benutzt hat, ist für Steven oder Audrey zu schwer. Sätze wie
Geneviève betrachtet die Sonne
können sie nicht entziffern.«
    Sie klickte mit der Maus, und der Bildschirm erwachte aus dem Ruhezustand und zeigte in großen Buchstaben
Tino ruft die Katze
an.
    »Siehst du, das ist einfach. Ich denke mir Texte und Bilder selbst aus. Und ich mache eine Fotokopie für jeden Schüler.«
    »Du überanstrengst dich«, sagte ihre Mutter voller Mitgefühl.
    »Mir sind achtzehn Kinder anvertraut worden, Mama. Ich will, dass sie am Ende des Schuljahres alle lesen können. Nicht ein einziges darf auf der Strecke bleiben.«
    Sie lächelte, und im Dämmerlicht des Computers hatte ihr Gesicht plötzlich die Anmut, die man sonst bei Madonnenbildern sieht.
    »Dein Vater war genau wie du. Er glaubte, das Schicksal der Erde würde allein auf seinen Schultern ruhen.«
    Céciles Lächeln erlosch, und der Bildschirm tauchte wieder in den Ruhezustand.
    »Geh schlafen, Mama. Ich bin fast fertig.«
    Aber als Cécile im Bett lag, begriff sie, dass sie nie fertig sein würde. Audrey. Die Kleine musste unbedingt von einem Logopäden behandelt werden. Und Steven? Während sie das Bilderbuch
Du groß, und ich klein
vorgelesen hatte, war er auf seinem Pult eingeschlafen. Nichts schien ihn zu erreichen. Hatte Steven einen beschränkten IQ , wie der Vorschullehrer geschrieben hatte? Auf jeden Fall hatte er Ausschlag um den Mund. Vor ihrem Auge zogen Bilder von Kindern vorbei, bis der Schlaf sie endlich in die Arme nahm.
    Aber schon beim Frühstück redete sie von Baptiste.
    »Er hampelt die ganze Zeit rum, hat Ticks, ständig fällt ihm etwas runter. Ruhig sitzen ist für ihn Folter.«
    »Müsste gehirnoperiert werden«, brummte Gil, während er sein drittes Milchbrötchen mit Nutella verschlang.
    »Das ist kein Aggressivitätsproblem wie bei Tom. Tom kann man nichts sagen. Er glaubt immer, man wolle ihm etwas Böses. Und dann schlägt er mit aller Kraft zu.«
    »Endet im Gefängnis«, kommentierte Gil.
    Cécile war ganz in ihren Sorgen versunken und hörte ihm kaum zu.
    »I go«, sagte Gil und stand auf.
    Seine Mutter zuckte zusammen.
    »Wie bitte?«
    »Ich geh zur Schule. Küsschen, Mädels! Grüß mir deine Straffälligen, Sissi!«
    Cécile lächelte, als sie hörte, wie ihr Bruder den Spitznamen benutzte, den er ihr als Kind gegeben hatte. Er war einfach nur ein Baby – ein Baby von ein Meter neunzig.
    »Ich gehe auch«, sagte sie.
     
    In den vierzehn Tagen, die Cécile jetzt in die Louis-Guilloux-Grundschule ging, hatte sie nur zwei Arten von Gespräch mit ihren Kolleginnen gehabt.
    »Na, läuft’s mit Ihren kleinen Teufeln?«, wurde sie von Madame Muller, der Lehrerin der zweiten Klasse, gefragt.
    »Die Schüler sind sehr lieb«, antwortete Cécile dann.
    »Nicht gerade warm heute«, bemerkte Madame Pommier, die Lehrerin der dritten Klasse.
    »Man weiß gar nicht, was man anziehen soll«, erwiderte Cécile, die sich immer gleich anzog.
    Mademoiselle Barrois blieb daher für die vier anderen Lehrer der Schule ein Geheimnis. Monsieur Montoriol hatte Madame Acremant, der Lehrerin der vierten Klasse, im Vertrauen erklärt, er frage sich, ob »die kleine Barrois wirklich für den Beruf gemacht« sei. Das hatte Marie-Claude Acremant wiederum unter dem Siegel der Verschwiegenheit Chantal Pommier weitergetragen, die »ganz unter uns« Melanie Muller davon erzählt hatte.
     
    An diesem Morgen stand in der ersten Klasse Rechnen auf dem Programm. Die Schüler sollten sich mit den Begriffen »größer als«, »kleiner als« und »gleich« beschäftigen. Cécile setzte Tom und Démor nebeneinander, dann fragte sie in den Raum hinein: »Wer ist kleiner als der andere?«
    Der zu Späßen aufgelegte Démor stellte sich auf die Zehenspitzen. Gelächter hinten in der Klasse. Hände gingen hoch.
    »Madame! Madame!«
    »Ja, Philippine?«
    »Das ist Démor.«
    »Genau. Démor ist kleiner als Tom. Tom ist also …«
    Sie sah die Klasse fragend an.
    »… blöder als Démor«, vervollständigte der junge Baoulé.
    Er fing sich einen Faustschlag an die Schläfe ein, genau da, wo seine verbrannte Haut sich schrumpelig neu gebildet hatte.
    »Tom, Tom!«, rief Cécile und stellte den kleinen Jungen mit beiden
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