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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser
Autoren: Marie-Aude Murail
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Tee machte und unwillkürlich vor Abscheu die Nase rümpfte. Marie-Claude Acremant stank nach Zigaretten.
    »So sind die Moslems«, fügte sie halblaut hinzu. »Sie lassen die Mädchen nicht aus dem Haus.«
    »Sind die Baoulés Muslime?«, fragte Melanie erstaunt.
    »Ja, na klar! Wie soll denn sonst … Die haben doch mindestens zwanzig Kinder! Der Vater hat mehrere Frauen.«
    »Glaubst du?«, fragte Melanie.
    Sie konnte sich nicht so recht vorstellen, dass Muslime ihre Kinder nach katholischen Feiertagen benannten, war aber zu müde, um darüber zu diskutieren. Da öffnete sich weit die Tür und mit klirrenden Armreifen kam Chantal Pommier hereingeschneit wie eine Diva.
    »Ich kann nicht mehr! Ich habe Tiburce schon wieder einen Ball weggenommen, oder Felix. Oder Alphonse. Ach, ich verwechsle diese Boualés alle!«
    Im Chor korrigierten Melanie und Marie-Claude: »Ba-ou-lés!«
    Chantal sah sie verdutzt an: »Sage ich doch. Boualés.«
    Melanie seufzte, und Marie-Claude ging wieder zu ihrem Fenster, um eine zweite Zigarette zu rauchen. Chantal öffnete einen Schrank, und nachdem sie ein paar mehr oder weniger leere Schachteln hin- und hergeschoben hatte, schimpfte sie: »Wer hat meine Fruchtkekse gegessen? Also so was! Ich hatte extra meinen Namen draufgeschrieben …«
    Es gab Dinge, die ihr die Laune verdarben, etwa, wenn sie sich seit dem Morgen auf ihre Kekse freute und dann entdeckte, dass sie verschwunden waren. Niemand hörte, wie Cécile das Lehrerzimmer betrat.
    »Ach, sieh an!« Chantal schreckte zusammen, als sie den Kopf aus dem Schrank zog.
    Es war das erste Mal, dass Cécile sich auf dieses Territorium wagte.
    »Entschuldigung, äh, guten Tag«, stammelte sie. »Weiß jemand, wie man in die Bibliothek kommt?«
    Cécile hatte die Schulbibliothek durch eine Glastür hindurch gesehen. Es war ein Raum voller farbiger Poster und hübscher Kissen, sehr verlockend, wenn die Sonne über die Bücherregale strich. Aber abgeschlossen. Die drei Lehrerinnen sahen sich an, und jede überließ es einer anderen zu antworten. Melanie opferte sich: »Omchen hat den Schlüssel.«
    Sie hatte mit einem so bedrückten Gesichtsausdruck geantwortet, dass Cécile sich nicht traute nachzufragen, was mit dem merkwürdigen Satz gemeint war. Sie begnügte sich mit einem Nicken und verließ das Lehrerzimmer.
    »Völlig asozial«, erklärte Chantal bestimmt und klirrte mit ihren Armreifen. »Hat jemand meine Fruchtkekse gesehen?«
     
    Monsieur Montoriol führte im Pausenhof Aufsicht. Er rief Cécile zu: »Könnten Sie mich vertreten? Ich muss ein Telefonat erledigen …«
    Er hatte herausgefunden, dass die Neue sich jeden Dienst aufhalsen ließ. Außerdem schmeichelte es Cécile, wenn man sie um einen Gefallen bat. Sie setzte sich auf ein Fensterbrett und beaufsichtigte die Kinder. Alphonse und Leon Baoulé hatten eine Kette organisiert. Das Prinzip erinnerte entfernt an
Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?.
Ein Wolf fing die Teilnehmer und steckte sie ins Gefängnis. Die ersten beiden Gefangenen wurden zu Gefängniswärtern, die sich an der Hand hielten und eine Kette bildeten. Wenn es einem der Gejagten gelang, unter den gestreckten Armen der Kette hindurchzukommen, waren alle frei.
    Cécile stand auf und ging zwischen den Gruppen umher. Unter dem überdachten Teil des Hofes klatschten sich Lisa und Claire nach einem komplizierten Ritual in die Hände und sangen:
    »René, der war ein wilder Krieger
    der machte tausend Feinde nieder
    Seine Frau die Kaiserin
    stopft sich dicke Würste rin«
    Cécile sah ihnen zu, lächelte kaum, aber innerlich hielt sie ihr Glück ganz fest. Sie hätte nicht sagen können, warum die Spiele der Kinder sie so sehr begeisterten. Ein Stückchen weiter war die Ecke der Murmelspieler.
    »Was ist los, Ines?«
    Das energische kleine Mädchen stritt mit einem Großen aus der Dritten.
    »Er wollte Murmeln spielen mit echtem Gewinnen«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Und er hat verloren und will mir seine dicke Murmel nicht geben!«
    Ines’ Augen funkelten.
    »Lügner! Betrüger!«
    Sie war bezaubernd in ihrer Wut, ihr blonder Schopf flatterte um ihr wütendes Gesicht. Plötzlich schüttelte eine Hand sie an der Schulter.
    »Bist du fertig mit deinem Zirkus, junge Dame?«
    Monsieur Montoriol war zurück im Hof und mischte sich in die Auseinandersetzung, da er der Auffassung war, Cécile sei dazu nicht in der Lage.
    »Ich will diesen Murmelhandel nicht in der Schule. Jeder behält
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