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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser
Autoren: Marie-Aude Murail
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Vater der Erfinder des Druckluft-Korkenziehers ist.«
    »Und?«
    »Er ist reich. Ich will arm sein.«
    Eloi lächelte gewinnend: »Hast du heute Abend Zeit?«
    Gil wurde misstrauisch: »Wofür?«
    »Um die Welt zu ändern.«
     
    Das Ende des Schultages näherte sich. Die Kinder waren unkonzentriert. Cécile ließ sie rhythmisch die Silben des Textes aufsagen, der an der Tafel stand: »Klatscht in die Hände! Ti-no ruft die Ka-tze! Du brauchst nicht auch noch mit den Füßen zu stampfen, Baptiste!«
    Auf der anderen Seite der Wand fuhr sich Melanie Muller mit der Hand über die Stirn. Dieser Lärm, dieser Lärm!
    Cécile befahl: »Alle aufstehen! Nehmt eure Zauberstifte!«
    Dann kam: »Wenn ihr den Buchstaben ›e‹ hört, hebt ihr die Hände in die Luft und wedelt mit ihnen.«
    Es war eine Variante von
Alle Vöglein fliegen hoch.
    »Ein Elefant.«
    Alle Hände oben.
    »Ein Ei.«
    Hände unten. Zwei Kinder reagierten etwas später als alle anderen: Marianne, weil sie sich erst selbst befragen musste und dafür immer eine gewisse Zeit brauchte; Steven, weil er die Meinung der Mehrheit beobachtete, bevor er sich ihr anschloss. Zehn Minuten vor dem Klingeln beschloss Cécile, sich nach dem Hasen zu erkundigen, der in den Garten gerannt war. Alle begannen zu schreien:
    »Der Bauer kontrolliert den Garten
    weil ihn schon öfters Tiere narrten.
    Er steht am Zaun und blickt entsetzt:
    He, seht ihr da den Hasen wohl?
    Der frisst genüsslich meinen Kohl!«
    Auf der anderen Seite der Wand stand Melanie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. »Ich muss es ihr sagen«, wiederholte sie immer wieder, »ich muss es ihr sagen.« Das Klingeln ertönte.
    »Bis morden, Madame!«
    »Nein, Audrey. Da ist für euch doch keine Schule. Denn nach Dienstag kommt …«
    »Mittwoch!«, brüllten Baptiste und Eglantine.
    »Erinnert ihr euch an meinen Abzählreim?«
    »Jaaaa!«, riefen alle wie beim Kasperletheater.
    Das Ganze war eine Idee von Cécile gewesen, damit die Kinder sich die Wochentage besser einprägen konnten. Alle liefen aus dem Klassenzimmer und riefen rhythmisch: »Am Montag scheint der Mond, am Dienstag da ist Dienst, Mittwoch ist die Mitte. Am Donnerstag, da donnert’s grad’, am Freitag ist nicht frei.«
    Immer wenn sie ihrer Phantasie freien Lauf ließ, kam Cécile richtig in Fahrt. Aber auch Melanie Muller war an diesem Dienstag richtig in Fahrt. Sie stürzte im Gang auf ihre Kollegin zu: »Ja, merken Sie denn gar nichts! Dieser Lärm … das ist doch unerträglich! Noch nie hat … Also, niemand hat je …«
    Verstört und mit zerzaustem Haar wirkte sie wie aus dem Irrenhaus entlaufen. Cécile wich einen Schritt zurück. Melanie spürte, wie alle Aggressivität von ihr abfiel, und mit Tränen in den Augen sagte sie zittrig: »Sie müssen Ihre Klasse strenger führen. Ich kann unter solchen Bedingungen nicht mehr arbeiten. Und das mit meinem Sohn, der … der gerade seine Zähne bekommt … Ich kann schon nicht mehr schlafen.«
    Sie bedauerte ihren Wutausbruch und wusste nicht mehr, wie sie aus der Situation rauskommen sollte.
    »Entschuldigen Sie«, murmelte Cécile.
    Sie sahen sich beide betreten an.
    »Nicht schlimm«, beruhigte Melanie sie. »Jeder hat das mal durchgemacht. Sie fangen gerade erst an …«
    Sie lächelte ihr schönes erschöpftes und tapferes Lächeln, mit dem sie ihren Sohn Martin um zwei Uhr morgens anlächelte. Und sie machte sich eilig auf den Weg nach Hause. Cécile widerstand der Versuchung, es genauso zu machen. Sie hatte beschlossen, sich Omchen zuzuwenden.
     
    Die Großen aus der vierten und fünften Klasse kannten Omchen seit langem. Als sie noch die benachbarte Vorschule besuchten, hatte Omchen ihnen die Nase geputzt und ihnen die Hosen wieder angezogen. Inzwischen war sie in Rente und hatte ihren Dienst in der Bibliothek angetreten. Sie hatte ein Gesicht wie aus Holz geschnitzt und war von entsprechendem Charakter.
    »Wer sich sein Buch ausgesucht hat, setzt sich«, rief sie, packte Maeva unter den Armen und setzte sie heftig hin.
    Maeva wirkte wie jene kleinen Dinge, die das Leben ein für alle Mal an der Gepäckaufbewahrung hatte liegen lassen. Sie bewegte sich nicht mehr von ihrem Stuhl, bis Omchen sie nach der Stunde vor die Tür setzte.
    »Ja, was machen die denn schon wieder, diese Bamboulas?«, murrte Omchen.
    Felix, Alphonse und Leon standen zusammen, hatten ein aufgeschlagenes Buch in ihrer Mitte und lachten. Es war ein Sachbuch über bedrohte Tiere. Sie dachten, sie hätten
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