Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Ort für die Ewigkeit

Ein Ort für die Ewigkeit

Titel: Ein Ort für die Ewigkeit
Autoren: Val McDermid
Vom Netzwerk:
hatte.
    Tommy sagte nichts, er hatte den Kopf gesenkt, die Augen unter den schweren Brauen verborgen. Er wußte, er war noch empfindungslos von dem Schock, und wünschte, dieser Zustand würde anhalten.
    »Ich weiß nicht, wie ich die Geschichte erzählen soll«, sagte Alison erschöpft. »Sie sitzt seit fünfunddreißig Jahren in meinem Kopf fest, und ich habe keine Übung im Erzählen. Als alles vorbei war, hat niemand von uns je wieder darüber gesprochen. Ich sehe Kathy Lomas jeden Tag, an dem ich in Scardale bin, und wir erwähnen es nie. Auch jetzt, wo Sie hergekommen sind und alte Erinnerungen ausgegraben haben, hat sich niemand von uns hingesetzt und darüber gesprochen. Wir haben getan, was wir glaubten, tun zu müssen, aber das heißt nicht, daß wir keine Schuldgefühle hatten. Und Schuld ist etwas, über das niemand leicht mit einem anderen spricht. Ich habe das aus eigener Erfahrung gelernt, lange bevor ich Psychologie studierte.«
    Sie strich sich das Haar zurück und sah Catherine in die Augen. »Ich dachte, wir würden nie und nimmer damit durchkommen. Ich lebte jeden Tag in Angst, jemand könnte an die Tür klopfen. Ich erinnere mich an meine wirkliche Mutter, die Dorothy anrief, um über die Ereignisse während der Ermittlung zu sprechen. Jeden Tag rief sie an. Und sie saß wie auf glühenden Kohlen, weil George Bennett so ein guter, ehrlicher Polizist war. Er war so ausdauernd, sagte sie. Sie war überzeugt, daß er herausbringen würde, was wirklich lief. Aber das hat er nicht geschafft.«
    Tommy hob den Kopf. »Ihr habt alle gelogen, als wärt ihr zum Lügen und zu nichts anderem geboren worden«, sagte er mit versteinerter Miene. »Kommen Sie, Alison, erzählen Sie uns noch den Rest.«
    Alison seufzte. »Sie dürfen nicht vergessen, wie das Leben in den sechziger Jahren war. Kindesmißbrauch gab es einfach in Familien oder Gemeinden nicht. Es war etwas, das ein perverser Mensch, ein Fremder vielleicht, tun würde. Aber wenn man zu seinem Lehrer gegangen wäre oder zum Arzt oder zum Dorfpolizisten und hätte gesagt, der Squire von Scardale fickt alle Dorfkinder – man wäre für verrückt erklärt und eingesperrt worden.
    Sie müssen auch bedenken, daß wir praktisch mit Haut undHaaren Philip Hawkins Besitz waren. Unser Lebensunterhalt war von ihm abhängig, und unsere Häuser gehörten ihm. Unter dem alten Squire waren wir mehr oder weniger wie in einem Feudalsystem aufgewachsen. Nicht einmal die Erwachsenen kritisierten den Squire. Und wir waren kleine Kinder. Wir wußten nicht, wie man sich gegen einen Squire wehrt. Und niemand von uns wußte, daß die anderen auch betroffen waren, jedenfalls waren wir nicht sicher. Wir waren alle zu verängstigt, um über das zu sprechen, was passierte, sogar untereinander.
    Er war ein schlauer Kerl, wissen Sie. Er hatte nie Anzeichen von Pädophilie gezeigt, als er meine Mutter umwarb. Er hatte nie viel Zeit für mich, bevor er sie heiratete. Er war ganz nett und kaufte mir einiges. Aber er belästigte mich nie. Ich bin überzeugt, der einzige Grund, weshalb er meine Mutter heiratete, war, sich zu tarnen. Wenn einer von uns es gewagt hätte, etwas gegen ihn zu sagen, hätte er den empörten Unschuldigen und den glücklich verheirateten Ehemann gespielt.« Sie streckte Tommy einen anklagenden Finger entgegen. »Und ihr hättet ihm geglaubt.«
    Tommy seufzte und nickte. »Sie haben wahrscheinlich recht.«
    »Ich weiß, daß ich recht habe. Jedenfalls, wie ich schon sagte, er hat sich mir vor der Heirat nie genähert. Aber sobald er verheiratet war, änderte sich das total. Da hieß es dann ›kleine Mädchen müssen ihren Vätern zeigen, wie dankbar sie für alles sind, was Vati für sie tut‹ und lauter solche bösartigen emotionalen Erpressungen.
    Aber ich war ihm nicht genug. Dieser Scheißkerl Hawkin hat jeden einzelnen von uns mißbraucht. Außer Derek. Ich glaube, Derek war ein bißchen zu alt für seinen Geschmack.« Sie legte die Hände um ihre Teetasse und seufzte wieder. »Und wir haben alle den Mund gehalten. Wir waren verwirrt und erschrocken, aber keiner wußte, was man tun könnte.
    Und eines Tages hat mich meine Mutter gefragt, warum ich die Damenbinden nicht benutzt hätte, die sie mir gekauft hatte, als ich meine erste Periode hatte. Ich sagte ihr, ich hätte seitdem keine Periode mehr gehabt. Sie fing an, alle möglichen Fragen zu stellen, und alles kam heraus. Was er mit mir gemacht hatte, daß er Bilder von sich und mir gemacht hatte,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher