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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht
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aber glauben Sie vielleicht, wir hatten etwas von alledem, von diesen mühsam zerstemmten und zerlegten Sachen, den traurigen kleinen grünen Steinen, die den größten Wert besaßen ...?! Nein, nichts hatten wir. Unsere Angst drückte den Preis, schloß den Handel rasch und rascher ab, eine Pflicht: nur um die Dinge aus dem Zimmer zu bringen. Es ist aber – und das sei Ihnen hier gesagt, Herr Castiletz! (er hob dabei den Kopf aus den Armen) – geradezu ehrfurchterweckend gewesen, daß sich nach dem letzten Verkauf und eigentlich auch, nachdem wir das letzte, aus dieser Quelle stammende Geld rasch und lebensgierig verbraucht hatten – daß sich dann über Tag, über Nacht, Woche und Monat, alles, alles änderte. Bei Margit und bei mir.«
    Seine Augen schwammen in Tränen, als er den Kopf wiederum hob.
    »Nun«, fuhr er fort, »Sie wollen sicher mit Einzelheiten verschont sein. Hier (Botulitzky zupfte an seinem Uniformrock, um deutlich zu machen, daß er die Bahn meinte) kam ich überraschend gut vorwärts. Die Neubauten der Jahre 1923 und 1926 erhöhten zudem den Bedarf an Fahrpersonal. . .«
    Das letzte sagte er fast murmelnd, er schien nun geendet zu haben. Castiletz schwieg. Nach einer Weile kam noch ein Satz, zwischen die auf dem Tisch verschränkten Arme hinein gesprochen:
    »Mir hat es alles zerbrochen, wie man einen Ast über das Knie bricht; mein ganzes Leben verdorben . . .«
    »Mir auch«, wollte Conrad sagen. Schon stießen die Worte von innen an seine Zähne, seine Lippen. Aber in diesem Augenblicke durchschaute er – beides zugleich – die Unsinnigkeit dessen, was er sprechen wollte, zusammen mit der ganzen Art, wie er sein Leben lang geredet hatte, wie alle redeten, Erborgtes und Glattes übernehmend von Mund zu Mund. Das war schon ein richtiger Gnadenblitz, was ihn mit solcher Klarheit jetzt inwärts erhellte. Nein, nicht diese schwächlich abbiegende Weichenstellung damals in der Seele des Knaben, diese »Dummheit«, hatte »sein Leben zerstört« (worin schon hatte dieses ansonst bestanden?!), sondern – sie selbst war eben sein Leben, sein wirkliches, damals wie heut, nein, wie bis vor zwei Stunden. Was jedoch während langer, folgender Jahre sozusagen dafür gegolten hatte, bildete nur einen verschleiernden Schutt, mit dem zu altern man auf dem besten Wege gewesen war.
    Jetzt erst wollte er wirklich sprechen. Nicht zu irgend jemandem, nicht um gehört zu werden; nein, wie in Einsamkeit, wie vor dem leeren Raume selbst. Kein Denker von Beruf, und des Ausdruckes völlig ungewohnt, erschien ihm dieser letztere als eine Aufgabe von der Schwere eines Bergs, der auf den Lippen liegt.
    Noch schickte er sich an – und mit bemerkenswerter Kühnheit – um diesen unmöglichen Kranz zu ringen, als jetzt draußen ein Schlüssel seinen Weg ins Schloß fand, das Licht knipste und in alle kleinräumigen Ecken sprang (über Schneiderpuppe, Plättbrett, Strumpfwirkmaschine), ein leichter Schritt vor die Tür des Zimmers kam, welche nun rasch geöffnet wurde, als von einem Menschen, der sich verspätet hat.
    »O du gütiger Himmel«, sagte sie, und ihr Blick, vor der Größe des Lebens kapitulierend, lag auf Castiletz, zitternd und durchsichtig wie Eierklar, während ihr Körper, eine schwache Schlingpflanze, nicht mehr durch sich selbst aufrecht zu stehen schien, sondern nur durch den Türpfosten, woran sie lehnte. Beide Männer hatten sich erhoben.
    »Er ist es«, sagte Botulitzky.
    »Weiß er –?« fragte sie.
    »Ja«, antwortete Botulitzky.
    »Alles?« fragte sie.
    »Ja«, flüsterte Botulitzky, den Kopf langsam senkend, voll Scham vor der Frau wegen seiner Unklugheit, seiner Unvorsichtigkeit. Es war die Nackenbeuge vor Hera, älteste Gebärde des Manns: wodurch er’s erst wurde.
    Castiletz sprang zu ihr. »Margit!« rief er, »Sie können unbesorgt sein! Sie müssen unbesorgt sein!« Er schrie, in Wahrheit, zu ihr wie um Hilfe. Der See des Leides stieg, ging aus ihren Augen über. »Darf ich’s . . .?« sagte sie und nickte hinter dem Tränen Vorhang. Botulitzky brach am Tische zusammen, tief abstürzend mit dem Antlitz in das Dunkel seiner verschränkten Arme. »Es ist alles gut, alles gut jetzt«, murmelte er.
    49
    Castiletz reiste nicht in dieser Nacht. Keine Züge eilten durch seinen Traum, keine mußten erreicht werden, zerfielen dann während der Fahrt, so daß man, immer noch auf der Eisenbahn fahrend, doch schon auf den Schwellen ging mit kurzen Schritten. Sein Schlaf war stationär. Der Zug
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