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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht
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Tragbahren schwankten steif und lang zu den Ambulanzwagen.
    Marianne gelangte bis in den Vorgarten. Auf einer Tragbahre hob sich ein Arm, wurde geschwenkt, winkte sie heran. Man setzte die Bahre ab, einer von der Rettungsmannschaft beugte sich über den Liegenden und sprach mit ihm. Marianne wurde sogleich durchgelassen, nun stand sie im Innern dieses Ringes von Aufregung und Zuschauern, im verhältnismäßig leeren Raum und erkannte den Herrn von Hohenlocher, dessen Gesicht – befremdlich, es ganz ohne die Stirn zu sehen! – aus der Tiefe eines um und um laufenden Kopfverbandes hervorsah. Dort unten lächelte er oder versuchte es, er wollte Marianne begrüßen, drückte ihr die Hand und antwortete, auf ihre Frage: »Nein, nichts los bei mir. Ein Pistolenkasten ist samt dem Wandbrett heruntergefallen durch die Erschütterung, mir in sehr freundlicher Weise auf Kopf und Schultern. Gnädige Frau, ich bitte Sie von Herzen, sich jetzt zu fassen, dieser Mann hier wird Sie führen.« Er wies auf den Sanitäter. Die Bahre wurde emporgehoben, Herr von Hohenlocher wollte sich aufrichten, zur Verabschiedung von Frau Castiletz, er verzog jedoch schmerzhaft und etwas ärgerlich das Gesicht und sank zurück. Marianne folgte dem Rettungsmann durch die Torfahrt, welche ihr endlos erschien, wie ein langer Tunnel. Sie traten auf den Hof mit den Klinkern hinaus. Rechts abseits standen zwei bedeckte Bahren, links an der weißgetünchten Wand auch eine. Der Sanitäter wies auf diese. »Ich bitte Sie, sich zu fassen, gnädige Frau«, sagte er, unwillkürlich Hohenlochers Worte nachsprechend, mit einem, bei so vieler schwerer Arbeit, rasch gesammelten Gesicht. »Es ist Ihr Gatte.« Dann schlug er das Tuch zurück, nahm die Kappe ab und trat weg.
    Kokosch sah aus, als ob er siebzehn Jahre zählen würde. Eine äußere Verletzung war nicht sichtbar. Sein Kopf lag etwas zurück, die Brust unter dem offenstehenden Schlafanzuge schien gewölbt, wenngleich ihr jetzt der Odem fehlte. Marianne begriff nichts, es war ja unmöglich. Aber als sie neben ihm in die Knie sank, unter den Händen die antikische Formung dieser Schultern spürend: damit kapitulierte sie vor dem, was eben wirklich hier war. Ihr konnte in diesen Minuten kein Rätsel aufgegeben werden, auch nicht durch das Döslein, welches aus seiner rechten, halb geschlossenen Hand weit genug hervorsah, daß sie es ein wenig zu wenden und also zu erkennen vermochte. Der rechte Arm war leicht zur Brust angezogen. Hatte einst gegen das in ihrer Ehe stets anwesende Unbegreifliche und Unheimliche der Flammenvorhang des Hasses geweht, wie eine Kriegsfahne: jetzt sank auch dies herab, in Asche. Sie hob den Kopf. Ihr Blick irrte hinaus gegen die tieferliegenden Teile der Stadt, welche man von hier sehen konnte. Der Himmel dieses Aprilmorgens wies jenen zerfahrenen und verwaschenen Ausdruck, der dem Schwanken der Erde im halben Frühling, zwischen Tod und Leben, entspricht. In der Leere des Himmelsrandes zerflossen und entschwanden einige ganz erstaunliche Gebilde, aufgekrauste weiße Windwolken, wie Segel unter dem Horizont.
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