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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht
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hier waren sie gestört, Stunde auf Stunde voneinander getrennt, weil der starre Schein der Birne sich zwischen ihnen spreizte: und so standen sie denn am Ende höchst übernächtig im allmählich, bei heraufkommender Tageshelle, abmagernden und vereinsamenden elektrischen Licht.
    51
    Der Postbote stieg im Haus Hans-Hayde-Straße Nummer 5 die Treppen empor: ein achtbarer, anständiger Mann, wie alle Postboten. Er war vierzig Jahre alt, kannte das Leben und wußte, was er der Frau Schubert da in den Kasten steckte: die Zustellung eines Gerichtsbeschlusses, wahrscheinlich eine Pfändung betreffend. Wenn auch ein Postbote solche Fälle im Tausend kennt: so rasch ermüdet ein rechtes Herz nicht, es ist so leicht nicht unterzukriegen. Erdachte: »arme Frau«. Dann warf er das Stück in den Kasten, drückte auf den Klingelknopf und – beinahe wäre hier vom Autor geschrieben worden: »und wandte sich wieder zur Treppe.« Aber diesmal hätte ihm der Verleger wahrlich ohne Nachsicht heimgeleuchtet! Denn es brachte ja dieser Druck auf den Taster eine grundstürzende Veränderung der Lage überhaupt hervor, für den Postboten selbst, für Frau Schubert, ja für alle Beteiligten.
    Der Postbote wandte sich nämlich in gar keiner Weise. Vielmehr flog er, wie er stand, samt Diensttasche mit dem Rücken voran über den ganzen Treppenabsatz bis an die Wand. Glücklicherweise ist der brave Mann bei der Geschichte so ziemlich heil davongekommen, wenn man von einigen geringfügigen Verletzungen absieht. Seine Aussage und die stattgehabte kommissionelle Untersuchung klärten die Ursache der Explosion auf. Durch den ziemlich großen Funken, welchen die in Tätigkeit gesetzte Glocke über der Türe naturgemäß erzeugt hatte – vielleicht war zudem die Stellschraube des Unterbrechers im Lauf der Jahre zurückgegangen und gelockert, bei so vielem vorbeifahrenden schwerem Fuhrwerk, Tankwagen und dergleichen, und auf solche Weise die Funkenstrecke noch größer geworden – durch jenen Funken also, der als Zündschlag wirkte, kam das in der Wohnung der Frau Schubert vornehmlich an der Decke angesammelte Gas, gemischt mit durch die Ritzen eindringender Luft zur schrecklichsten Explosion. Der Postbote, welcher, nur von ein paar fallenden Ziegeln gestreift, auf dem zum freihängenden Balkon gewordenen Treppenabsatze damals ohnmächtig liegen geblieben war, erlebte, seiner Schilderung nach, einen sehr merkwürdigen Augenblick: als nämlich alles rund um ihn in Bewegung geriet, ein Schütten, Poltern und dumpfes Trommeln anhob und namenlos wuchs, während feste, glatte rechtwinkelige Sachen sich in verhältnismäßig langsam fallende, dick mit Schutt gefüllte Wolken auflösten, deren dumpfer Aufschlag unten dann schwebendere, luftigere Gebilde zurücksandte, dünnen Staub, immer mehr und mehr. Balken wurden sichtbar, Rahmen verschwanden geknickt, mit einem grundbrechenden Geräusch aus ihren Verbindungen weichend. Was die Schubert anlangt, so wurde diese verhältnismäßig wenig verletzt, ja eigentlich durch die Katastrophe – welche die Scheiben elastisch springen ließ wie vom Finger geschnippt, alles aufriß, überall Luft hinbrachte – vor dem Erstickungstode gerettet.
    In einem großen Teile der Stadt machte die Explosion durch ihren dumpfen Paukenschlag die Fensterscheiben zittern, mit besonderer Wucht freilich in der nächsten Umgebung. Marianne Castiletz lief gleich los, um zu sehen, was es gäbe; seit sie Sport betrieb, fürchtete sie sich überhaupt vor nichts mehr. Sie war mutig wie ein Husarenleutnant. Hinter ihr lief das Mädchen, hinter dieser der Chauffeur, um seinerseits wieder auf die beiden Frauen achtzugeben. In der Hans-Hayde-Straße hatte man die polizeiliche Absperrung noch nicht so dicht vollzogen wie zehn Minuten später, auch war die Menge der hinzugeströmten Menschen zunächst eine geringe. Das Haus Nummer 5 sah auf den ersten Blick mit seiner linken Hälfte so aus wie ein zerbrochenes Korsett, aus welchem die Fischbeine herausstehen: hier Balken und Sparren. Zimmer öffneten sich mit ihren Tapeten dem freien Himmel, im zweiten Stockwerk stak ein Stuhl im Schutt, die vier Beine nach oben gestreckt, als habe er sich verzweifelt auf den Kopf gestellt und eingebohrt, um so viel Zerstörung nicht zu sehen. Die Mitte des Hauses mit der Torfahrt schien fast unbeschädigt, rechts bemerkte man eigentlich nichts, bis auf das Fehlen einiger Fensterscheiben. Die Rettungsmannschaft arbeitete, man schuf Platz mit lautem Zuruf,
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