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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht
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stand morgens in der gleichen Halle noch des Kopfbahnhofes, in welche abends eingefahren worden war.
    Im blauen Hotelzimmer lag der helle Tag. Conrad bog den rechten Arm, fühlte, daß in seiner Hand sich etwas Hartes befand, öffnete die Finger und sah jetzt auf dem stark im Schweiße befindlichen Handteller eine kleine Zigarettendose liegen, oder eigentlich ein zierliches Schnupftabaksdöschen aus altem Silber, mit den Initialen M und V im Deckel. Es war noch vorhanden gewesen, als einziges Stück. Margit hatte es ihm gegeben.
    Er wollte unverzüglich von Berlin abreisen, und fand jetzt, befremdet, jedoch auch angenehm überrascht, die Uhr erst auf sechs. Hier war der Frühzug bequem zu erreichen. Castiletz sprang aus dem Bett und schellte. Zwischen Frühstück, Bad und Ankleiden – wobei er alles ganz ungeordnet im Zimmer herumliegen ließ, jedoch keineswegs in Eile – schrieb er einen Brief an Herrn Klinkart, wenige Zeilen, darin er sagte, daß eine plötzliche und bedenkliche Erkrankung seiner Gattin ihn zwinge, augenblicklich heimzufahren. Er hoffe jedoch, rechtzeitig zu den bevorstehenden Besprechungen wieder da zu sein. Auf diesen Brief vergaß Conrad dann, er übergab ihn weder einem Pagen noch einem Kellner oder Zimmermädchen, sondern ließ ihn einfach am Rande des Schreibtisches liegen. Nebenbei vergaß er auch auf sein Gepäck, und wurde daran, während er seine Rechnung beglich, mit weltstädtisch-bescheidener Höflichkeit erinnert. Conrad sagte, er nehme nur den gelben kleinen Handkoffer da mit, man möge die Sachen irgendwie verstauen – die Kästen hingen voll, der Anzug von gestern lag halb auf einem Stuhl, halb am Boden – er gedenke in einigen Tagen wieder hier zu sein. Im Handkoffer befand sich übrigens das blaue Heft. Während der Reise las Castiletz belustigt darin, allein im Abteil, ließ es dann auf der Polsterbank liegen, zusamt dem unversperrten Köfferchen, und ging in den Speisewagen. Dort hielt er sich einen großen Teil der Fahrt hindurch auf, frühstückte, aß zu Mittag, jedoch seltsamerweise ohne einen Tropfen Bier, Wein oder etwa einen Cognac zu genießen. Es kam ihm dies gar nicht in den Sinn, er hatte kein Bedürfnis danach, und trank also irgendeinen Sprudel.
    Am weithingestreckten niederen Bahnhof nahm er die Linie 3, fuhr am Ende durch die lange, schmale Wackenroderstraße und stieg mit seinem lächerlichen Gepäckstück beim Parke aus. Das Gold späten Nachmittags flutete schräg durch die warme Luft, räumig und still war es, kaum ein Fahrzeug zu sehen, die Wipfel der Bäume standen unbeweglich in ihrem jungen, starren Grün. Auch im Stiegenhause spann ungestört der leere Abend seine Sonnennetze an den Wänden, jedoch setzte jetzt aus der Castiletzschen Wohnung ein gutes Grammophon schallend ein: es war seltsamerweise der gleiche Paso doble, nach welchem Conrad – der nun den Schlüssel in das so lautlose Schloß schob – zu Berlin im Inneren der Schlagsahne mit der Rothaarigen getanzt hatte. Durch den sich jetzt geräuschlos auftuenden Spalt konnte Conrad linker Hand über das Vorzimmer und geradewegs ins sogenannte »Ankleidezimmer« sehen, dessen Tür offenstand, und wo er Marianne erblickte, über das Grammophon gebeugt, übrigens nur mit einem Hemdhöslein bekleidet. Ihr starkes nußbraunes Genick wirkte entschieden wie ein Punkt hinter einem Aussagesatze, dessen Subjekt sie war, dessen Objekt – ein vollkommen unbekleideter Mann – neben ihr stand, und über dessen Verbum ein Zweifel nicht obwalten konnte. Beide hantierten am Grammophon, das ein außerordentliches Trompetengeschmetter vollführte. Castiletz, der nun ganz leise die Türe von außen wieder zuzog, hatte, bei diesem apokalyptischen Bilde, vorerst niemand anderen zu erkennen erwartet als Peter Duracher. Jedoch erwies sich dieses als irrtümlich, er mußte sozusagen noch ein paar Stockwerke mit dem sehenden Aug hinunterwandern, und hier nahm seine Voreingenommenheit wieder eine andere Gestalt an, nämlich die jenes jungen Mannes, der – aus unerfindlichen Gründen – mit einem Frauennamen gerufen zu werden pflegte: »Peggy.« Jedoch, auch dieser war es nicht. Zur gültigen Wirklichkeit optisch durchbrechend (demonstratio ad oculos) mußte Castiletz feststellen, daß er von dem da nicht einmal den Namen im Gedächtnis behalten hatte: es war eines jener neunzehnjährigen übertünchten Gräber vom Tennisplatze. Nun, von draußen, hörte er noch das Grammophon, jetzt leiser, dafür aber lautes Lachen
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