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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht
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seine Augen. Wie unter dem Stabe des Patriarchen einst das Wasser aus dem Felsgestein, so sprang hier, bei grenzenlosem Glücke, der Quell aus dem Karst, trat der heiße Strom der Tränen wieder an die Oberfläche, der, von einem sehr bestimmten Punkte der Knabenzeit an, ein ganzes Leben hindurch unterirdisch dahingegangen war, wie eine verborgene Blutung.
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    Bezüglich der Schubert hatte Herr von Hohenlocher schon recht gesehen. Als sie, kurz nach ihrem Weggange, mit sechs Bierflaschen in der Schürze wieder in ihre Schreckenswohnung hinaufstieg, da waren diese Flaschen, oder eigentlich deren Inhalt, sozusagen der letzte Faden, an welchem ihr Leben augenblicklich hing. (Hinkt dieser Vergleich? Ja? Ein wenig Geduld, er kommt bald auf gerade Beine.) In ihrer kleinen Küche angekommen, und somit allein, wurde die Schubert von Angst gepackt; jedoch war es ihr bereits unmöglich, mit ermatteten Füßen dauernd in den Straßen herumzulaufen. Die Türe nach rückwärts, in das einzige Zimmer dieser Kleinwohnung, wo die »Einrichtung« aufgebaut war, stand offen. Die Einrichtung war gelb und bleckte dementsprechend ihr falsches Gebiß, falsch, weil das Leben nichts zu beißen dazwischen schieben wollte. Die großen Ehebetten, genau in der Mitte stehend, waren die Wucht, die Hauptmacht, ein Trompetenstoß in Schleiflack, ein saftiger Hieb mit dem bekannten Zaunpfahl über den Schädel des Betrachters.
    Bei diesem Anblicke verwandelte sich die Angst der Schubert wiederum in Wut, was unserem Wurzelmännlein mit den hellen Augen immer noch besser tat. Sie schlug die Türe des Zimmers zu, blieb in der Küche, schaltete das Licht ein und begann, weil sie vor der Wiederkehr der Angst am allermeisten Angst hatte, aus einem Halbliterglase eilfertig Bier zu schlucken. Ihr kleines Eisenbettlein, auf welchem sie so kurz nur mehr zu schlafen gedacht hatte, befand sich in der Küche neben dem Herd. Dort saß die Schubert jetzt, schluckte und sah in den Vorraum hinaus; dessen Tür blieb immer offen, damit kein Läuten überhört werden könne, besonders am Abend. Aber es läutete nie. Nur morgens kamen Mahnschreiben.
    Der Rausch gab Kraft, wenn auch eine falsche. Die Augen der Schubert veränderten sich. Sie fühlte Größe. Die Wut wurde begeisternd und wagte sich jetzt an die Welt, welche dagegen nichts machen konnte, sondern sich’s ins Gesicht schreien lassen mußte, eingeschlossen wie sie da war mit der furchtbaren Schubert. Schon die dritte Flasche bekam einen Namen und zerplatzte, gleichzeitig mit der Erfindung desselben, als Volltreffer ins Gesicht Eines – und Jedermanns an der weißverputzten Wand. Der Name lautete: »Verfluchter Hund!« Der Buchstabe »u« klaffte zweimal auf wie ein Schlund von der Schwärze des Ebenholzes. Die Scherben blieben freilich nicht in der Wand haften oder stecken wie ein Pfeil. Sie klimperten pedantisch und nüchtern auf den Boden herab, bis auf einige, die, wegen ordnungsgemäßer Beachtung physikalischer Gesetze, nach seitwärts zu fliegen hatten und irgendwo in eine Ecke sprangen. Die vierte Flasche wurde von der Schubert getrunken. Die fünfte geworfen. Die sechste geöffnet, kraftvoll und entschlossen in das Halbliterglas geleert; und plötzlich, da riß sie den Schlauch vom Hahn, als wollte sie eine Schlange erwürgen, wie Herakles in der Wiege, es war ein wilder Triumph und ein tiefer, tiefer Schluck, aber nun wurde sie einfach vom Bier erschlagen, wie mit einem Schlegel auf den Kopf. Sie vermochte das Letzte nicht mehr hinunterzubringen. Den Mund noch voll, sank die Schubert halblinks rückwärts auf ihr Bettlein, hing aber nach rechts ein wenig über, und so kam es, daß aus dem betreffenden Mundwinkel ein dünner Faden Bieres floß (wegen des früheren Vergleiches), welcher so in der Tat durch einige Augenblicke noch eine Verbindung herstellte zu dem Boden hinunter, darauf das Leben der Schubert während der letzten Zeit gestanden war. Jedoch der Faden zerriß bald in einzelne Tropfen. Es sah bedenklich aus. Immerhin, so stark war das Leben in ihr, daß der Körper sich noch zum Schlafe zurechtrückte.
    Wie ein immerwährend blasender Wind kam das Gas aus dem Rohre, mischte sich mit der Luft, sammelte sich an der Decke in Küche und Vorraum. Die stummen Möbel und anderen Dinge, welche in der Nacht beieinander schlafen, in einer verdächtigen Gemeinschaft oder Einheit des Dunkels, die wir nicht zu kontrollieren vermögen – sie konnten ihre Vertraulichkeiten nur im Nebenzimmer üben:
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