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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder
Autoren: Karen Thompson Walker
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Gift im Blut.
    Frische Lebensmittel waren immer schwerer zu bekommen. Im Juli startete die Regierung die Lebensgarten-Kampagne, um Privatmenschen zu ermutigen, ihr eigenes Obst und Gemüse in Gewächshäusern anzupflanzen. Einsteigersets wurden verteilt, dazu Päckchen mit den widerstandsfähigsten Samen. Wir versuchten, Karotten zu ziehen, aber sie blieben mickrig und klein. Das bisschen Licht, das sie bekamen, stammte von unseren Lampen. Pilze waren das Einzige, was es im Überfluss gab.
    Wir schluckten handvollweise Vitamine, um den Mangel auszugleichen. Aber bald wurden die Tabletten knapp. Die Konservensammlung meiner Mutter wuchs in jenem Sommer rapide an. Das Arsenal belegte das gesamte Esszimmer.
    Seth und ich verbrachten viel Zeit damit uns auszumalen, wie die Welt aussähe, wenn die Menschen weg wären. Wir hörten, dass Plastik am längsten erhalten bleiben würde, also stellten wir uns die Häuser in meiner Straße auf PVC-Rohre und Legosteine, Tupperware und Sandeimer, Computerchips und Handys und Rasierapparate reduziert vor. Behälter jeder Form und Größe würden alles andere überragen, ihre Etiketten verblassen und das Plastik unter der Kraft einer unbarmherzigen und leblosen Sonne bersten.
    »Denk an die ganzen Zahnbürsten«, sagte Seth.
    Einmal bewunderten wir eine Mücke, die auf einer Verandalampe landete. »Schau mal«, sagte Seth. Seine Augen waren groß und wässrig. Die Mücke flatterte davon. Im Fliegen kam sie uns wie ein zartes, elegantes Wesen vor. »Schau! Schau!« Einen Moment lang waren wir überzeugt, es wäre das letzte wilde Geschöpf auf der Erde.
    An einem Abend wanderten wir mit Taschenlampen durch den Canyon. Hin und wieder warfen wir durch unsere Vorhänge einen verstohlenen Blick auf die Sonne. Wir lagen auf dem Rücken in der Dunkelheit und betrachteten die Polarlichter, wie andere Kinder früher Wolken betrachtet hatten.
    Abends küssten wir uns manchmal eine Zeit lang in unserer Einfahrt. Ich weiß noch genau, wie seine Lippen sich auf meinen anfühlten, wie zuckrig sein Erdbeerkaugummi schmeckte.
    Hin und wieder schien unser Gedächtnis uns im Stich zu lassen. Ich stellte fest, dass ich mich nicht mehr klar an die Gesichtszüge meines Großvaters erinnern konnte oder daran, wie meine Mutter vor ihrer Krankheit ausgesehen hatte – ich war mir sicher, dass ihre Haut etwas welker, rauer geworden war, aber so genau konnte ich es nicht sagen. Der Klang von Sylvias Klavier verschwand vollständig aus meinem Kopf. Ähnlich ging auch das Gefühl von Sonnenschein auf dem Gesicht verloren, der Geschmack von Erdbeeren, das Zerplatzen einer Traube im Mund. Es wurde immer schwerer, sich an diese längst vergangenen Morgen zu erinnern, als die Sonne noch wie ein Uhrwerk aufging, an die sich langsam lichtenden Nebelschichten, das schöne Licht, den Tagesbeginn.
    Aber ab und zu rief mir ein bisschen Wind oder ein bestimmter Geruch ins Gedächtnis, wie es früher gewesen war. Der Horizont wirkte vielleicht plötzlich wieder kahl – und ich überlegte einen Moment lang, was mit den Bäumen passiert war. Eine Stille rauschte manchmal unvermittelt in meinen Ohren, und mir fiel ein, was wir verloren hatten: den Gesang all der Vögel.
    Auf anderen Kontinenten breiteten sich Hungersnöte aus. Wir versuchten, nicht zu vergessen, dass wir hier mehr Glück hatten als die meisten.
    Im August jenes Jahres riss der Stromversorger unsere Straße auf. Es hatte etwas mit den Erdbeben zu tun, irgendwelche damit verbundenen Reparaturen. Arbeiter in orangefarbenen Westen brachen mit dem Presslufthammer ein Stück Bürgersteig auf und legten die Leitungen frei, die sich darunter schlängelten. Ein paar Stunden später, nachdem die Arbeit beendet war, gossen sie zwei neue Zementquadrate in den Bürgersteig, um die von ihnen zerstörten zu ersetzen. Der Zement war noch feucht, als die Arbeiter wegfuhren, bewacht nur von zwei orangefarbenen Kegeln und einem Streifen gelbem Absperrband.
    Seth und ich knieten uns davor, begierig, unsere Spuren zu hinterlassen, aber nicht sicher, was wir schreiben sollten. Ich spürte seinen Körper neben meinem, während wir unter der Straßenlaterne kauerten und beratschlagten.
    »Was wir schreiben, wird lange halten«, sagte er. Er starrte angestrengt auf den Zement und kaute auf der Lippe – das war eine seiner Angewohnheiten. Ich kannte inzwischen all seine Angewohnheiten. Er hob den Kopf und sah mich an. »Vielleicht unser ganzes Leben lang.«
    Da empfand ich eine
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