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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder
Autoren: Karen Thompson Walker
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Kunstrasen unter Stollen. Alle Freiluftpflanzen in unserer Gegend waren inzwischen eingegangen.
    Der Fußball glänzte im Schein der Polarlichter. Mein Vater stand im Tor, ich schoss. Im Laufe der Monate war es immer unbefriedigender geworden, einen Ball zu schießen, immer schwerer, ihn über den Platz fliegen zu lassen – es war eigentlich nicht die Schwerkraft, die sich vergrößerte, sondern die Zentrifugalkraft. Der Ball fühlte sich an meinem Fuß schwer an.
    »Hast du schon gehört, dass sie einen Planeten gefunden haben, der möglicherweise der Erde ähnlich ist?«, fragte mein Vater, als wir zurück zur Straße gingen.
    »Ehrlich? Wo?«
    »Weit weg von hier. Fünfundzwanzig Lichtjahre.«
    Eine Reihe von Autos glitt die Straße hinunter, die Scheinwerfer erhellten einen Moment lang ein paar Baumstümpfe vor der Schule.
    »Dann bringt uns das nichts.«
    »Nein«, sagte er. »Nein, uns nicht.«
    Eine Zeitlang liefen wir schweigend weiter. Ich zog den Reißverschluss meines Anoraks bis zum Hals hoch. Meine Stollen klackerten auf dem Asphalt.
    »Ich wette, du schaffst es dieses Jahr in die Auswärtsmannschaft«, sagte mein Vater. Grüne und violette Streifen zuckten über den Himmel.
    »Kann sein.«
    Aber ich glaube, wir wussten beide, dass es in diesem Jahr keine Auswärtsmannschaft gäbe.
    Aus allen Richtungen wehte das Echo von Hämmern durch die Luft, das Zischen von Kreissägen, das Schneiden von Stahl. Hunderte von Strahlungsbunkern blähten sich unter der Erde auf.
    Und immer noch dehnten sich die Tage aus, immer weiter. Wir knackten die zweiundsiebzig Stunden am 4. Juli.
    An dunklen Tagen in jenem Sommer streiften Seth und ich wie früher unter den Straßenlaternen herum, bleiche Geschöpfe, noch im Wachstum. Seth schien wieder gesund. Es schien ihm gutzugehen. Wir fuhren abwechselnd auf seinem Skateboard die Hügel in unserer Siedlung hinunter. Wir kauften Süßigkeiten im Schnapsladen, tranken Limo auf den Felsen über dem Strand. Wir wachten über das Sterben der Wale.
    Eines Nachmittags fing Seths Nase zu bluten an. Ein paar Tropfen fielen auf sein T-Shirt.
    »Das macht nichts.« Er wischte sich mit dem Handrücken die Nase und zog ein Taschentuch aus der Hose. Wir gingen in der Nähe des Meeres spazieren, das dunkel und laut unter uns lag. Seth legte den Kopf in den Nacken und kniff sich in den Nasenrücken. Schnell sickerte das Blut durch das Taschentuch.
    »Das kommt manchmal vor«, sagte er.
    »Wirklich? Vielleicht sollte mein Vater sich das mal ansehen.«
    »Es ist nichts Schlimmes«, sagte er.
    Nach ein paar Minuten hörte die Blutung auf. Sonst bemerkte ich nichts. Er versteckte seine Symptome gut.
    Sylvias Haus blieb leer. Ein »Zu Verkaufen«-Schild stand im Garten, aber das Dach war immer noch teilweise eingestürzt und mit Plastik verklebt. Kein Käufer kam sich das Haus jemals ansehen. Einmal, auf einem unserer Streifzüge, spähten Seth und ich durch ein Fenster. Wo früher das Klavier gestanden hatte, war der Holzfußboden etwas dunkler, und das Windspiel aus Muscheln trillerte sanft in der Brise. Das waren die einzigen Spuren, dass Sylvia je dort gewohnt hatte.
    Manchmal fragte ich mich, wohin sie gezogen war. Einer der Fernsehsender strahlte in dem Jahr einen Sonderbeitrag über die Echtzeitkolonien und ihre Bewohner aus, und ich suchte ihn, Szene für Szene, nach einem Auftauchen Sylvias in einer der Einstellungen ab, entdeckte sie aber nicht.
    In Circadia starben in jenem Sommer drei Menschen an einem Tag an Hitzschlag, nachdem einundvierzig Stunden Sonnenlicht das Thermometer in der Wüste auf siebenundfünfzig Grad getrieben hatten. Die Kolonien würden letzten Endes alle schließen. Als die Tage immer länger wurden, stellte es sich zunehmend als unmöglich für den menschlichen Körper heraus, sich anzupassen. Das Versprechen langsamer Zeit blieb weitgehend uneingelöst. Bei den Echtzeitern beeinträchtigten die Folgen langer Phasen ohne Schlaf nach und nach bestimmte kognitive Funktionen. Manche gaben auf und schlossen sich unserem Leben nach der Uhr an. Viele derer, die in den Kolonien ausharrten, versanken allmählich im Wahnsinn. Eine Gruppe in Idaho wurde kurz vor dem Verhungern, delirierend und halluzinierend gefunden – die gesamte Kolonie hatte aufgehört zu essen, obwohl ihre Schränke voller Konserven waren.
    Das war auch der Sommer der Nahrungsmittelknappheiten und Selbstmordkulte.
    Es schien, als würde jeden Tag eine neue Gruppe von Menschen tot aufgefunden, mit
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