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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder
Autoren: Karen Thompson Walker
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Anhängern. Darunter: die Hälfte eines kleinen Messingherzens, dessen andere Hälfte mir gehörte.
    »In dem Traum war ich bei mir zu Hause, aber es war nicht unser Haus«, fuhr sie fort. »Ich war bei meiner Mutter, aber sie war nicht meine Mutter. Meine Schwestern waren nicht meine Schwestern.«
    »Ich erinnere mich fast nie an meine Träume«, sagte ich und stand dann auf, um die Katzen aus der Garage zu lassen.
    Meine Eltern verbrachten den Morgen so, wie sie jeden Morgen verbrachten, sie lasen am Esszimmertisch die Zeitung. Ich sehe sie noch dort sitzen: Meine Mutter in ihrem grünen Bademantel und mit nassen Haaren überflog rasch die Seiten, während mein Vater schweigend und vollständig angezogen alle Artikel in der Reihenfolge las, in der sie abgedruckt waren, und sich die Spalten in seinen dicken Brillengläsern spiegelten.
    Mein Vater bewahrte die Zeitung jenes Tages noch lange auf, weggeräumt wie ein Erbstück, ordentlich gefaltet neben der vom Tag meiner Geburt. Die Seiten dieser Samstagsausgabe waren schon gedruckt, bevor die Nachricht gemeldet wurde, und berichten von steigenden Immobilienpreisen in der Stadt, der fortschreitenden Erosion an mehreren Stränden der Gegend und Plänen für eine neue Autobahnüberführung. In jener Woche war ein Surfer von einem Weißen Hai angegriffen worden; Grenzschutzbeamte entdeckten einen fünf Kilometer langen Drogenschmuggel-Tunnel zwei Meter unter der Grenze zwischen den USA und Mexiko; und die Leiche eines lange vermissten Mädchens wurde unter einem Haufen weißer Steine begraben in der weiten, leeren Wüste im Osten gefunden. Die Uhrzeiten von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang an diesem Tag stehen in einer Tabelle auf der letzten Seite, Voraussagen, die natürlich nicht eintrafen.
    Eine halbe Stunde, bevor wir die Meldung hörten, fuhr meine Mutter Bagels kaufen.
    Ich glaube, die Katzen spürten die Veränderung vor uns. Es waren beides Siamkatzen, aber unterschiedliche Züchtungen. Chloe war schläfrig und zart und lieb. Tony war das Gegenteil: ein altes und ängstliches Geschöpf, möglicherweise geistig gestört, ein Kater, der sich das eigene Fell in Büscheln ausriss und im Haus hinterließ wie winzige, über den Teppich treibende Steppenläufer.
    In jenen letzten Minuten, während ich Trockenfutter in ihre Schüsseln schüttete, kreiselten die Ohren beider Katzen nervös zum Vorgarten herum. Vielleicht spürten sie es, irgendwie, eine Verschiebung in der Luft. Sie kannten beide das Geräusch des in die Einfahrt biegenden Volvos meiner Mutter, aber später fragte ich mich, ob sie außerdem das ungewöhnlich schnelle Drehen der Reifen hörten, als meine Mutter eilig das Auto parkte, oder die Panik in dem lauten Knirschen der Handbremse, die sie mit einem Ruck anzog.
    Bald schon konnte sogar ich die Stimmungslage meiner Mutter am Stampfen ihrer Füße auf der Veranda erkennen, am planlosen Rasseln der Schlüssel an der Tür – sie hatte die inzwischen nur allzu bekannten ersten Berichte auf der Heimfahrt vom Bagelladen im Autoradio gehört.
    »Stell sofort den Fernseher an.« Sie war atemlos und verschwitzt. Den Schlüssel hatte sie im Schloss stecken lassen, wo der Bund den ganzen Tag baumeln sollte. »Da passiert etwas Grauenvolles.«
    An die Ausdrucksweise meiner Mutter waren wir gewöhnt. Sie schwang große Reden. Sie wetterte. Sie übertrieb und überspitzte. Grauenvoll hätte alles heißen können. Es war ein ausgedehntes Netz von einem Begriff, das tausend Möglichkeiten fasste, die meisten davon harmlos: heiße Tage und Verkehrsstaus, undichte Rohre und lange Schlangen. Selbst Zigarettenrauch, wenn er zu dicht heranwehte, konnte wirklich und wahrhaftig grauenvoll sein.
    Wir reagierten nur langsam. Mein Vater in seinem fadenscheinigen gelben Padres -T-Shirt blieb am Tisch sitzen, eine Hand auf der Kaffeetasse, die andere um den Nacken gelegt, und las einen Artikel im Wirtschaftsteil fertig. Ich öffnete die Bagelstüte und ließ das Papier zwischen meinen Fingern knistern. Selbst Hanna kannte meine Mutter gut genug, um einfach mit dem fortzufahren, was sie gerade tat – im untersten Fach des Kühlschranks nach dem Frischkäse zu wühlen.
    »Seht ihr euch das an?«, fragte meine Mutter. Taten wir nicht.
    Meine Mutter war einmal Schauspielerin gewesen. Ihre alten Werbespots – hauptsächlich für Haarpflegemittel und Küchenprodukte – waren alle in einem niedrigen Stapel staubiger schwarzer Videokassetten begraben, der neben dem Fernseher
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