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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder
Autoren: Karen Thompson Walker
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stand. Mir wurde ständig erzählt, wie schön sie als junge Frau gewesen war, und ich konnte es noch an ihrer ebenmäßigen Gesichtshaut und den hohen Wangenknochen erkennen, aber sie hatte in mittleren Jahren zugenommen. Nun unterrichtete sie einen Schauspielkurs und vier Geschichtskurse an der Highschool. Wir wohnten hundertfünfzig Kilometer von Hollywood entfernt.
    Sie stand auf unseren Schlafsäcken, einen halben Meter vor dem Fernseher. Wenn ich jetzt daran denke, stelle ich mir vor, dass sie eine Hand auf den Mund gelegt hatte, wie sie es immer tat, wenn sie sich Sorgen machte, aber damals war mir nur peinlich, dass die schwarzen Gummisohlen ihrer Turnschuhe Hannas Schlafsack zerknitterten, ein Modell aus zarter Baumwolle, rosa und gepunktet und nicht für die raue Umgebung eines Zeltplatzes, sondern ausschließlich für die dicken, weichen Teppiche beheizter Häuser gedacht.
    »Habt ihr mich gehört?« Meine Mutter drehte sich zu uns um. Ich hatte den Mund voller Bagel mit Frischkäse. Ein Sesamsamen hatte sich zwischen meinen Schneidezähnen verklemmt. »Joel!«, schrie sie meinen Vater an. »Im Ernst. Das ist schauderhaft.«
    Da blickte mein Vater von der Zeitung auf, hielt aber immer noch den Zeigefinger fest auf die Seite gedrückt, um seine Stelle zu markieren. Woher hätten wir wissen sollen, dass die Mechanismen des Universums das Feuer der Worte meiner Mutter schließlich gerechtfertigt hatten?

3
    W ir waren Kalifornier und daher an die Bewegungen der Erde gewöhnt. Uns war klar, dass der Boden erbeben und erschauern konnte. Wir hatten immer Batterien in unseren Taschenlampen und Wasserflaschen in den Schränken. Wir nahmen hin, dass Risse in unseren Bürgersteigen auftauchen konnten. Swimmingpools schwappten manchmal wie Wasserschüsseln über. Wir waren sehr geübt darin, unter Tischplatten zu kriechen, und wir wussten, dass wir uns vor fliegenden Glassplittern zu hüten hatten. Zu Beginn jedes Schuljahrs packten wir eine große Tüte mit unverderblichen Lebensmitteln, für den Fall, dass wir durch das Große Beben in der Schule festsäßen. Aber wir Kalifornier waren auf dieses spezielle Unglück nicht besser vorbereitet als jene, die ihr Heim auf beständigeren Boden gebaut hatten.
    Als wir an jenem Morgen endlich begriffen, was los war, rannten Hanna und ich nach draußen, um den Himmel nach Indizien abzusuchen. Doch der Himmel war nur der Himmel – ein normales, wolkenloses Blau. Die Sonne schien unverändert. Eine vertraute Brise wehte vom Meer her, und die Luft roch, wie sie damals immer roch, nach gemähtem Gras und Jelängerjelieber und Chlor. Die Eukalyptusbäume wedelten noch wie Seeanemonen im Wind, und der Krug Sonnentee meiner Mutter sah beinahe dunkel genug zum Trinken aus. In der Ferne hinter unserem Gartenzaun hallte und brummte nach wie vor die Schnellstraße. Die Stromleitungen summten weiter. Hätten wir einen Fußball in die Luft geworfen, hätten wir möglicherweise nicht einmal bemerkt, dass er ein bisschen schneller nach unten fiel, dass er ein bisschen fester auf dem Boden aufschlug als früher. Ich war elf Jahre alt in der Vorstadt. Meine beste Freundin stand neben mir. Ich konnte nicht einen einzigen Gegenstand entdecken, der nicht in Ordnung oder nicht da war, wo er hingehörte.
    In der Küche überprüfte meine Mutter schon die Regale auf Lebensnotwendiges, zog Schranktüren auf und inspizierte Schubladen.
    »Ich will nur wissen, wo die ganzen Notvorräte sind«, sagte sie. »Wir wissen nicht, was passieren kann.«
    »Ich glaube, ich sollte lieber nach Hause gehen«, sagte Hanna, immer noch in ihrem lila Schlafanzug, die Arme um die winzige Taille geschlungen. Sie hatte sich das Haar nicht gekämmt, dabei brauchte es Zuwendung, da es seit der zweiten Klasse nicht mehr geschnitten worden war. Aus irgendeinem Grund hatten alle mormonischen Mädchen lange Haare. Hannas hingen bis zur Taille und liefen unten spitz zu wie eine Flamme.
    »Meine Mutter flippt wahrscheinlich auch aus«, sagte sie.
    In Hannas Elternhaus wimmelte es von Schwestern, aber in meinem wohnte nur ein Kind, und die Zimmer fühlten sich ohne sie immer zu still an. Ich ließ sie nie gern gehen.
    Ich half ihr, den Schlafsack zusammenzurollen. Sie packte ihre Tasche.
    Hätte ich gewusst, wie viel Zeit vergehen würde, ehe wir einander wiedersahen, hätte ich mich anders verabschiedet. Aber wir winkten nur, Hanna und ich, und dann fuhr mein Vater sie zurück nach Hause, drei Straßen weiter.
    Es gab keine
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