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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder
Autoren: Karen Thompson Walker
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saß Michaela auf dem Fußballplatz fest und kämpfte eine Weile mit einer uralten, nicht mehr funktionierenden und von ihrem Schöpfer längst vergessenen Telefonzelle – wir anderen besaßen alle Handys –, bis schließlich der Trainer auftauchte, um eventuell dennoch Erschienenen mitzuteilen, dass das Spiel abgesagt oder zumindest doch verschoben sei, und Michaela nach Hause fuhr.
    Um die Mittagszeit an jenem ersten Tag hatten die Sender keine neuen Informationen mehr. Trotzdem berichteten sie einfach weiter, käuten dieselben kleinen Nachrichtenbrocken wieder und wieder. Es war egal, wir waren gefesselt.
    Ich verbrachte den gesamten Tag nur wenige Meter vor dem Fernseher auf dem Teppich sitzend gemeinsam mit meinen Eltern. Ich weiß noch genau, wie es sich anfühlte, diese seltsamen Stunden zu durchleben. Es war ein beinahe körperliches Bedürfnis: zu erfahren, was auch immer es zu erfahren gab.
    In regelmäßigen Abständen machte meine Mutter einen Rundgang durchs Haus, überprüfte eine nach der anderen die Armaturen, begutachtete Farbe und Klarheit des Wassers.
    »Mit dem Wasser wird nichts passieren, Liebling«, sagte mein Vater. »Es ist ja kein Erdbeben.«
    Er hielt die Brille in der Hand und putzte die Gläser mit dem Saum seines T-Shirts sauber, als wäre unser Problem lediglich eines der Sicht. Ohne Brille wirkten seine Augen auf mich immer zusammengekniffen und zu klein.
    »Du tust, als wäre das alles nichts Besonderes«, sagte sie.
    Das war eine Zeit, als die Meinungsverschiedenheiten meiner Eltern noch klein waren.
    Mein Vater hielt seine Brille ins Licht und setzte sie dann bedächtig auf die Nase.
    »Sag mir, was ich deiner Meinung nach tun soll, Helen«, sagte er. »Und ich tue es.«
    Mein Vater war Arzt. Er glaubte an Probleme und Lösungen, Diagnose und Behandlung. Sorgen waren in seinem Verständnis Zeitverschwendung.
    »Die Menschen sind in Panik«, sagte meine Mutter. »Was ist mit den ganzen Leuten, die für die Wasserversorgung und das Stromnetz zuständig sind? Was ist mit der Lebensmittelversorgung? Was, wenn sie ihre Posten verlassen?«
    »Wir können nichts anderes tun, als die Sache auszusitzen«, sagte er.
    »Na, das ist ja ein guter Plan«, sagte sie. »Ein ganz hervorragender Plan.«
    Sie eilte hinaus in die Küche, ihre nackten Füße klatschten auf die Fliesen. Ich hörte das Klicken und Quietschen der Hausbar, das Klirren von Eiswürfeln in einem Glas.
    »Bestimmt kommt alles wieder in Ordnung.« Ich war plötzlich von einem Drang erfasst, etwas Fröhliches zu sagen, er stieg in meiner Kehle hoch wie ein Husten. »Bestimmt wird alles wieder gut.«
    Schon strömten die Spinner und die Genies aus der Wildnis, setzten sich in Talkshows und wedelten mit den wissenschaftlichen Abhandlungen, deren Veröffentlichung die etablierten Zeitschriften abgelehnt hatten. Diese einsamen Wölfe behaupteten, das Unglück kommen gesehen zu haben.
    Meine Mutter kehrte mit einem Whisky in der Hand zur Couch zurück.
    Vom unteren Bildschirmrand brüllte uns eine Frage in roten Blockbuchstaben an. Diese Frage lautete: Ist das Ende nah?
    »Ach, komm«, sagte mein Vater. »Das ist doch reine Sensationsgier. Was erzählen sie denn auf den öffentlichen Sendern?« Die Frage löste sich in der Luft auf. Niemand schaltete um. Dann warf er mir einen Blick zu und sagte zu meiner Mutter: »Ich finde nicht, dass sie das sehen sollte. Julia, willst du ein bisschen Fußball spielen?«
    »Nein, danke.« Ich wollte keine einzige Meldung verpassen.
    Ich hatte mir das Sweatshirt über die Knie gezogen. Tony lag neben mir auf dem Teppich, seine Pfoten waren ausgestreckt, sein Atem ging keuchend. Er war so knochig, dass man die einzelnen Wirbel erkennen konnte. Chloe versteckte sich unter der Couch.
    »Komm, wir gehen mal ein Weilchen raus.«
    Er wühlte meinen Fußball aus dem Flurschrank und quetschte ihn zwischen den Händen.
    »Fühlt sich ein bisschen weich an«, sagte er.
    Er handhabte die Pumpe wie eines seiner medizinischen Geräte, führte die Nadel mit der Präzision und Sorgfalt eines Chirurgen in die Öffnung ein und pumpte dann methodisch, wie bei einem Beatmungsgerät, wartete immer, bis der letzte Luftschwall in den Ball gedrungen war, ehe er den nächsten hineindrückte.
    Widerstrebend band ich mir die Schuhe zu, und dann gingen wir nach draußen.
    Eine Zeitlang schossen wir schweigend hin und her. Ich konnte immer noch die Nachrichtensprecher drinnen plappern hören. Ihre Stimmen vermischten sich
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