Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder
Autoren: Karen Thompson Walker
Vom Netzwerk:
gesamtes Verständnis der Physik erschüttert.«
    Die Krankheit meiner Mutter kam und ging, aber sie lernte, einen drohenden Schwindelanfall frühzeitig an dem schwachen Metallgeschmack im Mund zu erkennen, ein weiteres Symptom, das ihr Arzt nicht erklären konnte.
    Ich bemerkte, dass mein Vater sich mit einer neuen Zärtlichkeit um sie kümmerte. Zwar deutete ich ihren Umgang miteinander aus einigem Abstand, aber ich spürte eine neue Nähe zwischen ihnen. Etwas hatte sich verändert, wenn mir auch die Ursache rätselhaft war. In jenem Sommer studierte ich sie von weitem, so wie, das hatten wir in der Schule gelernt, Astronomen manchmal einen fernen Planeten entdecken konnten – nicht, indem sie ihn sahen, sondern indem sie maßen, wie seine Masse das Sternenlicht krümmte. Die Anhaltspunkte ergaben sich aus dem Arm meines Vaters um die Schulter meiner Mutter, aus dem sanfteren Tonfall ihrer Stimme. Manchmal war sie nach einer ihrer Übelkeiten beinahe fröhlich, und wir spielten eine Weile Monopoly oder Halma, während meine Eltern ein Bier tranken. Einmal ging es ihr eine ganze Woche am Stück gut, und die beiden blieben jeden Abend lange zusammen auf, unterhielten sich leise, lachten ab und zu. »Siehst du?«, erinnere ich mich an die Stimme meines Vaters. »Du wirst wieder gesund.« Je mehr Zeit verging, desto weniger verstand ich, was die beiden miteinander verband, doch ich hatte den Verdacht, dass das Umkippen der Leiter im Bunker meines Großvaters den Verlauf der Ehe meiner Eltern verändert hatte. Die genaue Abfolge der Ereignisse oder welche Entscheidungen wann getroffen wurden, werde ich nie erfahren. Ich werde nie erfahren, ob mein Vater wirklich vorhatte, an jenem Tag mit Silvia wegzugehen. Ich weiß nur, dass mein Vater nicht ging. Ich weiß nur, dass er blieb.
    Sylvia sah ich nie wieder. Ich weiß nicht, ob mein Vater sie je wiedersah. Es gab Momente in jenem Sommer und hinterher, in denen ich ihn spät abends am Telefon hörte, aber mit wem er sprach oder was gesagt wurde, werde ich nie erfahren.
    Wenn er nicht arbeitete, verbrachte mein Vater Stunden damit, die Besitztümer meines Großvaters zu katalogisieren. Seine alte Eichenstanduhr tickte jetzt in unserem Wohnzimmer. Die Miniaturlöffel meiner Großmutter schaukelten an der zitronengelben Wand unserer Küche. Die Kinderschuhe meines Großvaters, acht Jahrzehnte vorher in Silber konserviert, hatten nun einen Platz in unserem Wohnzimmerregal.
    Mein Vater erwähnte Sylvia nie direkt. Gemeinsam strengten wir uns in diesem Sommer sehr an, uns vorzustellen, dass gewisse Ereignisse nie stattgefunden hatten. Der Geist ist eine starke Kraft, zwei Geister vor allem.
    Irgendwann im Juni lag der Polizeibericht vom Unfall meiner Mutter in unserem Briefkasten. Er muss das Schicksal des Fußgängers – verstorben – enthalten haben, aber ich erhaschte nur einen kurzen Blick auf das Dokument, als mein Vater es zerknüllte und auf die Zeitungen im Kamin warf, mit denen er gerade ein Feuer anzündete. Es war, als hätten wir beide gelernt, in die Vergangenheit zu reisen, an einen einfacheren Ort, wo die Regeln von Chronologie und Konsequenz, von Aktion und Reaktion, anders waren, diffuser, weniger eindeutig. Er brachte Sylvia nur ein Mal zur Sprache.
    Es war eine klare schwarze Nacht, der Mond zu drei Vierteln voll. Wir liefen zur Grundschule – seine Idee –, um auf dem Platz ein bisschen Fußball zu spielen.
    »Ich weiß, dass für dich nicht alles nachvollziehbar ist«, sagte er auf dem Weg. Einige Straßenlaternen leuchteten uns. Ich hatte Angst vor dem, was er als Nächstes sagen könnte.
    »Weißt du, was ein Paradox ist?«, fragte er.
    Er blieb stehen und rieb sich die Stirn. Eine Häuserkette in der Nähe hob sich als Silhouette vor dem dunklen Himmel ab.
    »Nicht so genau«, sagte ich.
    Ich weiß noch, wie meine Hände sich an diesem Abend anfühlten, sie waren tief in die Ärmel meines Anoraks gezogen. Ich hatte mich noch nicht daran gewöhnt, wie kalt die langen Dunkelheiten sein konnten.
    »Ein Paradox«, fuhr er fort, »ist, wenn zwei widersprüchliche Dinge beide stimmen.«
    Er wandte den Kopf zum Himmel. Eine winzige kahle Stelle hatte sich an seinem Hinterkopf gebildet; er war überall, stellte ich fest – der scharfe Nachweis der Zeit.
    »Vergiss das bitte nicht, ja?«, ergänzte er. »Nicht alles ist eindeutig.«
    Wir erreichten den Parkplatz und fanden eine Öffnung im Maschendrahtzaun. Ich erinnere mich noch an das Knirschen von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher