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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder
Autoren: Karen Thompson Walker
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jetzt, hatte mein Großvater den Raum heimlich auf die Ängste dieses neuen Zeitalters umgerüstet.
    Er maß drei mal vier Meter, die Wände waren mit dreiunddreißig Zentimeter dickem Beton ausgekleidet. In dem Bunker standen Kisten mit Flaschenwasser, Reihen von Konservendosen, zwei Schrotflinten und ein Kurbelradio. Es gab vier Schlafsäcke, vier Feldbetten – für jeden von uns eins. Da waren mehrere Kartons meines Lieblingsmüsliriegels. Ein Großteil dessen, was in seinem Haus fehlte, fand sich ebenfalls im Bunker. In einer Ecke standen mehrere Kisten mit Fotos und Wertsachen, Schuhschachteln mit den Goldbarren, die ich ihn im Wohnzimmer hatte packen sehen. Ein zweijähriger Kalender hing an einer Wand. Es war eine Höhle, die dafür vorgesehen war, das Zerbröckeln der Gesellschaft und was auch immer danach käme abzuwarten. Sie war nicht nur für ihn gedacht, sondern auch für uns, für meine Eltern und für mich. Offenbar war er doch nicht so erpicht darauf gewesen, den Fesseln seines Lebens zu entfliehen.
    Auf dem Boden lagen Habseligkeiten meines Großvaters: ein Kartenspiel, ein altes Monopoly, ein Damebrett mit Spielsteinen. Alle Einzelteile waren über den Beton verstreut. Eine Holzleiter lag in einem unnatürlichen Winkel auf dem Fußboden des Schutzraums. Laut dem Polizeibericht war das die Stelle, an der die Leiche meines Großvaters gefunden wurde.
    Er war einmal ein robuster Mann gewesen, aber mein erster Gedanke, als ich davon erfuhr, war, wie zart seine Haut geworden war, wie leicht und häufig sie sein Blut freigab.
    Später sollte ich sehr viel Zeit damit verbringen, über die Gesetze von Ursache und Wirkung zu grübeln, darüber, dass das Kippen dieser Leiter eines in einer langen Kette von Ereignissen war. Was wenn der Fußboden mit Teppich ausgelegt gewesen wäre? Was wenn der Hersteller der Leiter die Füße zum besseren Halt mit Gummi beschichtet hätte? Vielleicht wäre eine solche Leiter nicht so leicht über den Boden gerutscht. Hätten die Sowjets nicht 1962 beschlossen, Atomraketen nach Kuba zu schaffen, hätte mein Großvater den Bunker nie gebaut. Wäre die Erdrotation konstant geblieben, hätte er ihn nicht wieder in Benutzung genommen. Oft lag ich nachts wach und ging den tausend anderen Dingen nach, die den Tod meines Großvaters hätten verhindern können, aber von dem Moment an, als die Leiter wackelte, verringerten sich die Möglichkeiten: Sein Kopf schlug auf dem Beton auf, das Blut aus seinen Adern strömte in sein Gehirn, sein Herz hörte zu schlagen auf, und er verließ diese Erde für immer.
    Hinterher wurde angenommen, dass er schon am Tag seines Verschwindens starb, zwei Monate vorher, an meinem Geburtstag. Bei seinem Sturz trug er eine graue Stoffhose, Lederschuhe und ein Cordsakko. Er war für unser Abendessen gekleidet. Die Polizei mutmaßte, dass er weniger als eine Stunde vor unserem Eintreffen an jenem Abend in den Bunker gestiegen war und wahrscheinlich nur vorhatte, eine letzte Ladung in den Schutzraum zu bringen, ehe er mit uns zum Essen fuhr. In seiner Jackentasche fand man einen hellblauen Umschlag mit meinem Namen in den zittrigen Buchstaben meines Großvaters. Darin steckte eine Karte. Ein Zwanzigdollarschein lag in der Mitte, und auf die Karte hatte er einen kurzen Gruß geschrieben: »Alles Gute zum Geburtstag, Julia. Gott segne dich.«
    Dieses eine Detail treibt mir heute noch die Tränen in die Augen: Die Spiele, die sich auf den Armen meines Großvaters türmten, als er an jenem Abend auf den Fußboden stürzte, waren all die, von denen er wusste, dass ich sie am liebsten mochte.

33
    F rüher regnete es bei uns nie, aber es regnete an dem Tag, als wir meinen Großvater beerdigten. Wir hielten die Trauerfeier im kühlen Schutz der Dunkelheit ab. Mein Vater war auf dem Friedhof stiller, als ich ihn je erlebt hatte. Meine Mutter weinte leise hinter mir. Der schwarze Sarg glänzte unter den Flutlichtern, als Regentropfen an den Seiten hinabrannen, und ich konnte nicht glauben, dass er dort drin lag, mein Großvater, tot. Immer noch hörte ich den Klang seiner Stimme im Ohr. Immer noch sah ich sein Gesicht. Ich war noch nie bei einer Beerdigung gewesen.
    Bald verwandelte sich die Erde in Matsch und der Regen in Graupel. Irgendwo auf der anderen Seite des Planeten schien die Sonne, und die Menschen dort versteckten sich vor dem Licht. Ich weiß noch, dass ich an jenem Tag in meinem Anorak fröstelte und über den Unterschied zwischen Zufall und Schicksal
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