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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder
Autoren: Karen Thompson Walker
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würde sie gleich weinen.
    Eine Stunde verging, dann zwei. Keine Nachricht von meinem Vater. Meine Mutter rief in seiner Klinik an. Dort war er nicht.
    Erneut probierte sie es auf seinem Handy. Ich erinnere mich an das schnelle Piepsen der gewählten Nummern, wieder und wieder, jedes Mal drängender, die leisen Töne eines aussichtslosen Falls.
    Vor der Verlangsamung hätte niemand vorausgesagt, dass mein Vater der Typ Mann wäre, der Frau und Kind verlässt. Er war ein Mann, der kam, wenn er erwartet wurde, ein Mann, der seine Arbeit tat und jeden Abend nach Hause fuhr. Er war ein Mann, der Krisen bewältigte und seine Rechnungen pünktlich bezahlte. Die Forschung hat sich ausgiebig den physischen Auswirkungen der Schwerkraftkrankheit gewidmet, aber mehr Lebensläufe, als die Geschichte jemals aufzeichnen wird, wurden von den subtileren psychologischen Verschiebungen umgeformt, die die Verlangsamung ebenfalls begleiteten. Aus Gründen, die wir nie vollständig verstanden haben, veränderte die Verlangsamung – oder ihre Auswirkungen – die chemischen Vorgänge im Gehirn mancher Menschen, störte insbesondere das fragile Gleichgewicht zwischen Impuls und Kontrolle.

32
    F ünfzig Kilometer entfernt vollzog sich ein anderes Drama. Es begann mit einem Golden Retriever – oder man könnte auch sagen, dass die Geschichte früher beginnt, viel früher, vor sechzig Jahren, 1961, als Amerikaner erstmalig Instruktionen erhielten, wie man einen Bunker im Garten baute, zu einer Zeit, als jeder wusste, wie viele Zentimeter Beton nötig waren, um einen Menschen vor radioaktivem Niederschlag zu schützen.
    Doch die Ereignisse jenes Tages beginnen mit einem Golden Retriever. Wie den Tieren in unserer Nachbarschaft machte auch diesem Hund der Sonnensturm Angst, diesem Hund ganz besonders. Er sprang über seinen Gartenzaun und suchte das Weite.
    Er rannte zehn Straßen weit, an Garagen, Baumstümpfen, den Plastiknachahmungen von Rasen vorbei. Dies war eine am Reißbrett entworfene Siedlung, noch neu zum Zeitpunkt der Verlangsamung und sehr bemüht, möglichst unverändert zu erscheinen. Die Hänge waren natürlich baumlos, aber dafür boten die Häuser jetzt Meerblick in der Ferne, kilometerweit unversperrt. Schließlich jagte dieser Retriever einen Hügel hinauf und stürmte auf ein Grundstück, das unmittelbar hinter der Siedlung lag, ein ausgedörrtes Fleckchen Land, das zufällig meinem Großvater gehörte. Als seine Besitzer ihn endlich einholten, buddelte der Hund an einem Metallstück, das hinter dem Holzstapel meines Großvaters halb im Boden vergraben war. Es war eine in die Erde eingelassene rostige Falltür.
    Bald riefen die Hundebesitzer die Polizei.
    Manche sagen, Liebe sei das süßeste Gefühl, die reinste Form der Freude, aber das stimmt nicht: Es ist nicht Liebe – es ist Erleichterung.
    Ich erinnere mich noch an die genaue Tonlage meiner Mutter, als sie von unten zu mir nach oben rief. »Da ist er«, sagte sie. »Da ist er.«
    Unsere gesamte Zukunft wurde von dem kurzen Geräusch des in der Einfahrt verstummenden Automotors meines Vaters umgeschrieben.
    »Entschuldige«, sagte mein Vater und schüttelte sein Handy in der Luft. »Ich hab versucht anzurufen.«
    Erst später erfuhren wir, dass der Sonnensturm die Mobilfunksatelliten aus dem Verkehr gezogen hatte. Eine Million verzweifelter Anrufe flatterten an jenem Tag in den Weltraum, landeten aber nirgendwo.
    »Wo warst du?«, fragte meine Mutter.
    Aber mir war das inzwischen ganz egal. Er war zu Hause. Er war hier. Ich verzieh ihm auf der Stelle.
    Ich bemerkte den bekümmerten Ausdruck auf dem Gesicht meines Vaters nicht sofort. Mittlerweile hätte ich wissen müssen, dass letztlich nie die Katastrophen eintreten, mit denen man rechnet – es sind jene, die man überhaupt nicht erwartet. Es gab einen Grund, warum mein Vater an dem Tag so spät kam. Er war beim Haus meines Großvaters gewesen.
    Hinter dem Holzstapel meines Großvaters, wo einst Wildblumen wuchsen, befand sich eine uralte Falltür, flach und verrostet. Sie war der Eingang zu einem unterirdischen Schutzraum, den mein Großvater sechs Jahrzehnte vorher für den Fall eines Atomkriegs gebaut hatte.
    Ich hatte von dem Bunker nichts gewusst. Mein Vater erinnerte sich noch aus seiner Kindheit daran, wusste aber kaum noch die genaue Lage im Garten. Ja, er würde hinterher sagen, er habe angenommen, der Schutzraum sei vor Jahren eingestürzt. Doch in den Monaten vor seinem Verschwinden, entdeckten wir
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