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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder
Autoren: Karen Thompson Walker
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rätselte.
    Ich erholte mich schnell von meinem Sonnenbrand, aber Seth war wochenlang krank. Die Haut auf seinen Armen bildete Blasen und löste sich ab. Eine Reihe von Fieberanfällen suchte ihn heim. Es war nicht klar, ob das vom Sonnenbrand oder etwas anderem kam. Er ging nicht zur Schule. An den Nachmittagen saß ich bei ihm, aber er sprach wenig und schlief viel. Die alten Stunden brachen wie Narben wieder auf – ich verbrachte meine Mittagspausen erneut in der Bücherei, ängstlich und allein. Immer weniger Kinder kamen zum Unterricht.
    Nach einiger Zeit lebte Seth zwar wieder auf, aber ich machte mir damals schon Sorgen, dass er einen Schaden davongetragen haben könnte. Manches, was in der Kindheit passiert, nimmt man mit ins spätere Leben, und einige Experten prophezeiten eine Flutwelle von Krebserkrankungen.
    Der April ging rasch in den Mai über, und Mai war der Monat, in dem die Erdbeben begannen – damals waren sie schwach, aber häufig, ein fast tägliches Rütteln. Im selben Monat stellten wir ein zweites Gewächshaus im Garten auf und machten unsere Fenster sonnendicht. Meine Mutter kaufte Vorhängeschlösser für alle Türen im Haus. Mein Vater kaufte eine Pistole.
    Sieben Sonnenuntergänge später war es Juni.
    Der letzte Schultag war der stillste letzte Tag, an den ich mich erinnern kann. Wir brachten nicht die übliche Freude auf. Zum Teil lag es an der Dunkelheit, die uns dämpfte, die dünne Mondsichel, aber da war auch noch etwas anderes: ein neuer Sinn für Zeit, denke ich – wie schnell sie entgleitet. Später versuchte ich, Seth zu erklären, wie ich mich an dem Tag gefühlt hatte – er war immer noch krank zu Hause –, aber es war schwer, die Stimmung in Worte zu fassen. An diesem letzten Schultag, als wir unsere Rucksäcke packten und die Bücher im Bücherzimmer aufstapelten, herrschte das Gefühl, wir würden möglicherweise nie in diese Räume zurückkehren. Bis September waren es nur drei Monate, doch wir hatten aufgehört, die Zukunft vorherzusagen. Das gegenseitige Signieren der Schuljahrbücher wurde in jenem Jahr ernster genommen. Nostalgie floss aus jedem Stift. Ich hatte seit Monaten nicht mit Hanna gesprochen, trotzdem bestand sie darauf, in meinem Buch neben ihrem Foto zu unterschreiben, das aus einer Zeit stammte, als wir noch Freundinnen waren. Ich sah Hanna nie wieder. Sie und ihre Familie fuhren in jenem Sommer zurück nach Utah, um abzuwarten, was käme.
    Der Nachmittag ging zur Neige. Der Mond rutschte außer Sicht. Die Englischlehrer teilten die Sommerleselisten aus: Farm der Tiere , Tom Sawyer , Das Tagebuch der Anne Frank . Nie zuvor hatten wir das Schaben unserer Stühle auf dem Linoleum, das Quietschen eines Filzstifts auf einer Weißwandtafel als so tröstlich empfunden. Aber die Uhren tickten in der üblichen Geschwindigkeit, und so kam das Ende des Tages pünktlich. Die Schulbusse ächzten am Bordstein, Scheinwerfer leuchteten im Dunst. Der Gong ertönte. Manche umarmten sich. Manche weinten. Wir alle zerstreuten uns. Wir freuten uns weniger auf den Sommer als je zuvor.
    Die Sonnenstürme tobten den ganzen Sommer. Seth und ich verfolgten sie genau. Wir spürten nie, wenn sie stattfanden, aber sie beschädigten Stromleitungen auf der ganzen Welt und lösten damit häufig Brände aus. Immer mehr Strahlung sickerte in die Atmosphäre. Wir konnten ihre Auswirkungen in den wilden Bögen der Polarlichter beobachten, die über den Himmel schossen, sobald es dunkel wurde. Wir wussten nie, wann der Strom ausfallen würde. Ein plötzlicher Anstieg von Magnetpartikeln konnte jederzeit das Elektrizitätsnetz lahmlegen, deshalb hatten wir immer Taschenlampen bei der Hand, Kerzen greifbar.
    Wir hielten uns weiterhin von der Sonne fern.
    Mittlerweile war das meiste, was aus dem Mund von Wissenschaftlern kam, für uns andere unverständlich. Aber einige nackte Tatsachen begriffen wir. Derselbe Sonnenwind, der jetzt auf unseren Himmel eintrommelte, hatte einst, vor langer Zeit, die Meere und die Atmosphäre des Mars weggeleckt.
    »Wir haben schon Effekte wie diesen im Magnetfeld gesehen«, sagte ein Wissenschaftler, »aber niemals in einem so riesigen Umfang. Eigentlich müsste sich eine solche Verschlechterung über tausende von Jahren hinziehen.«
    Ihre Aussagen grenzten gelegentlich an Dichtung. Die Fantasie ging mit ihnen durch. Manche spekulierten, dass eine dritte, bislang unbekannte Kraft beteiligt sei.
    »Wir erleben hier etwas«, sagte ein Forscher, »was unser
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